Wohl kaum jemand wird bestreiten, dass ein dauerhaft übermäßiger Konsum von Zucker der Gesundheit schaden kann. Dennoch schaffen es viele nicht, ihren Konsum von Süßigkeiten oder Lebensmitteln, in denen der Stoff steckt, einzuschränken. Nur warum fällt es uns so schwer, darauf zu verzichten? Für seine Zuckerfrei-Kolumne hat Nuno Alves, Editorial Director von FITBOOK, die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin und Ernährungsexpertin Dr. Nicole Avena interviewt und zum Suchtpotenzial von Zucker, den Symptomen einer Abhängigkeit und den Entzugserscheinungen befragt.
Nachdem ich in den ersten Teilen meiner Kolumne über die Motive für meinen Zuckerverzicht geschrieben habe und über die Veränderungen, die er mit sich brachte, möchte ich im vierten Teil über einen Aspekt berichten, der verhältnismäßig wenig betrachtet wird: das Suchtpotenzial von Zucker. Dr. Nicole Avena gilt als Pionierin auf diesem Gebiet. Die US-Neurowissenschaftlerin, Ernährungsexpertin und Juniorprofessorin an der US-Eliteuniversität Princeton forscht seit Jahren zu Esssucht und ihren Folgen. Ihre Erkenntnisse hat sie u. a. in dem Buch „Why Diets Fail (Because You’re Addicted to Sugar)“ zusammengefasst. Im Interview erklärt Avena, dass eine Zuckersucht das gleiche Muster aufweist wie die Sucht nach harten Drogen und Alkohol.
FITBOOK.de: Viele behaupten, das Verlangen nach Süßem sei ein Zeichen von Schwäche. Wie sehen Sie das?
Dr. Nicole Avena: „Ich würde sagen, es ist definitiv kein Zeichen von Schwäche. Nach Zucker zu verlangen, ist weitaus komplexer als einfach nur keine Willenskraft zu haben, ihn zu vermeiden. Wenn man stark verarbeitete Lebensmittel isst, die typischerweise einen hohen Zuckergehalt haben, schüttet das Gehirn Dopamin aus – und erzeugt damit ein ultimatives Belohnungssignal. Wenn, aufgrund des Zuckers, hohe Dopaminmengen ausgeschüttet werden, gibt uns dies ein gutes Gefühl hinsichtlich dessen, was wir gerade gegessen haben. Und unser Gehirn sagt uns, dass wir mehr davon wollen. Nicht selten veranlasst uns das, zu viel zu essen oder nach etwas Süßem zu verlangen.“
»Unternehmen nutzen unsere Biologie aus
Warum wird bei Süßem überhaupt Dopamin ausgeschüttet?
„Aus evolutionärer Sicht ist das vorteilhaft. Als wir noch Jäger und Sammler waren, erlaubte uns das Auffinden von schmackhafter Nahrung in einer Umgebung, die ansonsten von Nahrungsmittelknappheit gekennzeichnet war, zu begreifen, dass wir besser viel davon essen sollten, weil unklar war, wann die nächste Mahlzeit zur Verfügung stehen würde.“
Nun führen die meisten Menschen heute kein Leben als Jäger und Sammler…
„Heutzutage sind Lebensmittel alles andere als knapp, und unser Nahrungsangebot ist stattdessen übersättigt mit Produkten, die übertriebene Mengen Zucker enthalten. Man kann im Grunde sagen, dass die Unternehmen sich unserer Biologie zunutze machen, die in uns das Verlangen nach ihren zuckerhaltigen Produkten erzeugt.“
Wie Zucker das Belohnungssystem übersteuert
Gibt es einen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass Zucker Suchtpotenzial hat?
„Absolut. Wir wissen, dass Zucker eine Dopaminausschüttung im Gehirn verursacht und so eine positive Feedback-Schleife erzeugt. Das führt zu einem von Belohnung getriebenen Essverhalten, auch ‚hedonistischer Hunger‘ genannt. Wir essen, weil es uns besser fühlen lässt, nicht wegen der Kalorien oder Nährstoffe. Eine Übersteuerung des Belohnungssystems, sei es durch Zucker oder Drogen wie Kokain, Nikotin oder Alkohol, bringt die Leute dazu, dieses Hochgefühl zu suchen, das sie von der Dopaminausschüttung bekommen.“
Man wird gewissermaßen zuckersüchtig…
„Zahlreiche Forschungsarbeiten – viele davon stammen aus meinem Labor – haben gezeigt, dass das Essen von stark verarbeiteten Lebensmitteln, die reich an zugesetzten Zuckern sind, etwa Eis, Kekse oder sogar Pizza, im Laufe der Zeit zu Veränderungen im Gehirn führen können. Die sind damit vergleichbar, süchtig nach Drogen oder Alkohol zu sein. Das ist zum Teil der Grund, warum es schwierig sein kann, eine gesunde Ernährungsweise beizubehalten. Wir sind süchtig nach Junkfood. Beispielsweise stützen Studien mit Labortieren die Hypothese, dass stark verarbeitete Lebensmittel, besonders solche mit hohen Mengen an zugesetztem Zucker, süchtig machen können. Zudem zeigen Neuroimaging-Studien (mithilfe von bildgebenden Verfahren, Anmerk. d. Red.), dass das Belohnungssystem bei übergewichtigen Personen Veränderungen aufweist, die denen von drogensüchtigen Menschen ähneln.“
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Die Symptome einer Zuckerzucht

Dr. Nicole Avena forscht seit Jahren
am Suchtpotenzial von Zucker und
Essstörungen. Die Neurowissenschaftlerin
doziert u. a. an der US-Universität Princeton Foto: privat
Gibt es Symptome einer Zuckersucht?
„Anzeichen können sein, dass man nie satt ist, wenn man gesunde Lebensmittel isst, oder man das Gefühl hat, man könnte essen und essen, um sich satt zu fühlen. Man ist während einer Diät gereizt und schlechtgelaunt, und man hat ständig das Bedürfnis nach bestimmten Nahrungsmitteln. Zudem glauben einige Forscher, dass Binge Eating ein Anzeichen einer Esssucht sei. Binge Eating beinhaltet, dass man in einer kurzen Zeit ungewöhnlich große Mengen an Essen konsumiert. Dieses Verhalten wurde ausgiebig an Ratten untersucht, um zu zeigen, dass ein süchtiges Individuum möglicherweise genauso übermäßig essen wie es auch übermäßig Alkohol konsumieren würde.“
Was raten Sie Menschen, die glauben, sie seien zuckersüchtig?
„Wenn man das Gefühl hat, das eben Beschriebene trifft auf einen selbst zu, dann sollte man versuchen, den Zucker zu reduzieren oder ihn komplett wegzulassen. Obwohl es unmöglich ist, sich 100-prozentig zuckerfrei zu ernähren – auch gesunde Lebensmittel wie Obst oder Gemüse enthalten Zucker –, sollte man Wege finden, den Konsum runterzufahren und die Rolle des Zuckers im Leben zu überdenken. Die Ernährung so zu verändern, dass Zucker nicht die Hauptquelle für Genuss und die Kalorien ist, bedeutet eben auch, unnötige Kohlenhydrate zu streichen und komplexe Kohlenhydrate zu integrieren. Je nachdem, wie abhängig man von Zucker ist, kann etwas Süßes wie ein Donut ab und zu okay sein, und gelegentlich mal Pasta oder Naturreis wird auch nicht schaden. Es geht letztlich darum, dass Kohlenhydrate nicht das Essverhalten kontrollieren.“
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Die Entzugserscheinungen bei Zucker
Was sind typische Entzugserscheinungen bei Zucker?
„Untersuchungen an Labortieren zeigen, dass die Entzugssymptome die gleichen sein können wie bei Drogen. Dazu zählen Angstzustände und Depressionen. Ein weiterer guter Indikator für Zuckerentzugssymptome ist, wenn man während einer Diät reizbar und schlechtgelaunt ist und ständig Verlangen nach süßen Lebensmitteln empfindet.“
Worauf sollte man sich einstellen, wenn man versucht, vom Zucker loszukommen?
„Wie bei jeder Sucht kann der Genesungsprozess schwierig sein – aber eine Heilung ist möglich. Bei einer Esssucht kann es am besten sein, nach und nach die süchtig machenden Lebensmittel aus der Ernährung zu streichen. Man kann beispielsweise zunächst alle zuckerhaltigen Getränke weglassen, dann Süßigkeiten usw. Von diesem Punkt an wird es schwierig sein, den Zucker komplett aus dem Leben zu streichen, aber mit der Zeit wird jeder Schritt etwas einfacher. Selbst wenn man eine Esssucht überwunden hat, muss man sich seiner Ernährung immer bewusst sein und verhindern, in alte Gewohnheiten zurückzufallen.“
Was sollte man beachten, um nach einer überstandenen Zuckersucht einen Rückfall zu vermeiden?
„Es kann einfacher sein, die Zuckersucht wie eine Alkoholabhängigkeit zu betrachten. Ein echter Alkoholiker wird nicht mal ein Schlückchen Alkohol zu sich nehmen, wenn sie oder er versucht, die Sucht zu überwinden und nüchtern zu bleiben. Schon ein kleiner Schluck Alkohol kann dafür sorgen, dass eine Person das Gefühl bekommt, die Kontrolle über das Trinken zu verlieren, und schnell wieder rückfällig wird. Für jemanden, der wirklich glaubt, zuckersüchtig zu sein, kann sich nur eine Süßigkeit negativ auf die Einhaltung einer zuckerarmen Ernährung auswirken. Beispielsweise kann ein Donut dazu führen, dass man gleich zwei oder drei auf einen Schlag isst – was wiederum zu einem weiteren starken Verlangen führt, das man kaum ignorieren kann.“
Tipps, um eine Zuckersucht zu vermeiden
Wie verhindert man überhaupt, eine Zuckersucht zu entwickeln?
„Wie bei allem in unserer Ernährung, egal ob gesund oder nicht, ist Maßhalten entscheidend. Hier und da mal etwas Süßes ist nicht der Rede wert, aber wenn man merkt, man übertreibt bei Süßigkeiten jedes Mal – zum Beispiel, wenn man auf einen Schlag einen 500-Milliliter-Eisbecher isst, oder wenn auf einen Donut gleich noch der zweite und dritte folgt –, dann sollte man einen Schritt zurück machen. Man sollte nach anderen Möglichkeiten suchen, Süßes zu bekommen, ohne sein Dopamin-System zu überladen.“
Zum Beispiel?
„Halten Sie frisches Obst und kleingeschnittenes Gemüse als Snacks griffbereit, wenn Sie mal das Bedürfnis nach etwas haben. Wenn Sie ein Eis wollen, gehen Sie raus für eine Kugel, statt sich vom Supermarkt gleich den 500-Milliliter-Becher oder mehr nach Hause zu holen. Finden Sie Wege, Ihren Konsum einzuschränken, und sorgen Sie für Hindernisse, damit Sie es nicht übertreiben können.“
Über den Vor- und Nachteil von Süßungsmitteln
Wer Zucker reduzieren möchte, greift häufig auf Süßmittel zurück. Was halten Sie davon?
„Süßungsmittel wie Stevia oder Erythrit können gute Alternativen sein, wenn man versucht, weniger Zucker zu konsumieren. Insbesondere dann, wenn insgesamt die Kalorien und Blutzuckerspitzen reduziert werden sollen. Allerdings haben Süßstoffe immer noch einen süßen Geschmack und lösen eine Dopamin-Belohnungsreaktion aus, die sich nachteilig auswirkt, wenn das Ziel ist, die Abhängigkeit von Zucker insgesamt zu reduzieren. Ideal wäre stattdessen, Wege zu finden, Süßes in Maßen genießen zu können. Zum Beispiel kann man auf Obst-Snacks setzen statt auf Süßigkeiten und Gebäck. Oder man kauft vorportionierte Produkte, um übermäßiges Essen zu vermeiden. Greifen Sie zu ballaststoffhaltigem Getreide und Hülsenfrüchten, wie etwa Vollkorn, Linsen oder Bohnen, und ersetzen Sie damit verarbeitetes Getreide wie Reis, Pasta oder Weißbrot.“
Der Geschmackssinn braucht sicher auch Zeit, bis er sich angepasst hat…
„Oft schmeckt das Essen süß wegen der Soßen oder Würzmittel, die wir reintun. Statt gezuckerte Dressings zu kaufen, kann man mit Gewürzen und Kräutern herumexperimentieren, um dem Essen Extra-Geschmack und zuckerfreien Pepp zu verleihen. Auch ein paar Spritzer Zitrone oder Limette auf dem Essen können eine gute Möglichkeit sein, das Essen um ein natürliches Dressing zu ergänzen, das gleichzeitig auch noch schmackhaft ist. Sie werden vielleicht bemerken, dass sich Ihr Geschmackssinn verändern wird und Sie zuckerfreie Aromen bevorzugen, je häufiger Sie Ihr eigenes Dressing machen oder beim Würzen der Mahlzeiten rumprobieren.“
»Ich rate bei einer Zuckersucht von einem kalten Entzug ab
Ist eine Radikalumstellung von jetzt auf gleich sinnvoll?
„Viele versuchen einen kalten Entzug und streichen den Zucker sofort ganz. Ich rate davon ab, weil es sowohl körperlich als auch psychisch schwierig sein kann, vom Zucker wegzubleiben, wenn man seine Ernährung so abrupt ändert. Man sollte zunächst die Hauptquelle für zugesetzten Zucker in der eigenen Ernährung identifizieren und da ansetzen.“
Was raten Sie noch?
„Es ist wichtig zu lernen, wie man Lebensmitteletiketten liest und die Inhaltsstoffe deutet, um zu verstehen, wo sich zugesetzte Zucker verstecken können.“
Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Zucker?
„Ich esse nicht viel davon. Ich habe auch nie viel genascht, darum ist das für mich keine große Herausforderung. Aufgrund meiner Forschungsarbeit bin ich mir der Gefahren des übermäßigen Zuckerkonsums bewusster, deshalb ziehe ich es vor, ihn zu vermeiden.“
Auch Sie versuchen, ohne Zucker zu leben oder glauben, an einer Zuckersucht zu leiden? Schreiben Sie Nuno Alves an zuckerfrei@fitbook.de.