In Deutschland unterscheidet man drei verschiedene Arten von diagnostizierten Essstörungen: Magersucht, Bulimie und Binge-Eating. Letztere ist besonders schwer zu erkennen, weiß Dr. Elisabeth Rauh. Die Fachärztin für Psychosomatik befasst sich seit 30 Jahren mit dem Krankheitsbild. FITBOOK sprach mit ihr über Ursachen, Auslöser, Symptome und Behandlungsansätze.
Eine Pizza, eine Packung Eis, zwei Packungen Chips und noch eine Packung Schokoriegel: Menschen, die an Binge-Eating leiden (binge steht im englischen für „Gelage“), schlingen regelmäßig und unkontrolliert große Mengen an Nahrung in sich hinein.
Kriterien für die Diagnose Binge-Eating-Disorder
Das Fachzentrum für gestörtes Essverhalten in Bad Oeynhausen definiert zwei Kriterien für die Diagnose Binge-Eating-Disorder (kurz BED):
- mindestens zwei wöchentliche Essanfälle über die Dauer von einem halben Jahr
- sowie zu schnelles Essen bis zum unangenehmen Völlegefühl
Menschen mit einer Binge-Eating-Störung haben das Gefühl für Sättigung verloren. Sie essen dadurch zu viel, ungesund und aus den falschen Motiven, wie die Selbsthilfeorganisation ANAD (Anorexia Nervosa and Associated Disorders) berichtet.
Expertin: Erst der schmerzende Bauch stoppt den Fressanfall
Dr. Elisabeth Rauh ist Chefärztin des Fachzentrums Psychosomatik der Schön Klinik Bad Staffelstein und beschäftigt sich seit 30 Jahren mit Essstörungen. Die Problematik der BED beschreibt sie gegenüber FITBOOK so: „Der oder die Betroffene möchte aufhören, alles in sich hineinzuschlingen, schafft es aber nicht.“ Die Fressanfälle fänden eigentlich „immer“ in der Heimlichkeit statt. Während der Attacken seien die Betroffenen wie betäubt. Erst der schmerzende Bauch, ein übervoller Magen, stoppe den Fressanfall. „Für die Betroffenen ist es eine würdelose Inszenierung“, meint die Psychotherapeutin.
Essen ohne Kontrolle
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Ursachen und Auslöser von Binge-Eating
Die Binge-Eating-Disorder ist meist nicht durch eine Ursache bestimmt, sondern wird in der Regel durch eine ganze Reihe verschiedener Einflüsse ausgelöst. „Die BED kann genetische oder auch familiäre Gründe haben“, erläutert Rauh. Auch Bemerkungen über die Figur, Stress am Arbeitsplatz, Mobbing oder Traumatisierung seien in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Die tatsächlichen Auslöser seien dann jedoch meist Diäten.
Der Verzicht auf bestimmte Lebensmittel – wie in den meisten Diäten üblich – führe zu Heißhunger. Von da sei es dann bei manchen nicht mehr weit zum ersten (unkontrollierten) Fressanfall, führt die Ärztin aus. Passend dazu hat die Universität Michigan übrigens 2015 herausgefunden, dass stark verarbeitete Lebensmittel mit einem hohem Salz-, Zucker- und/oder Fettgehalt Heißhunger verstärken und Fressattacken auslösen können. Pizza, Eis, Schokolade, Chips, Kekse und Pommes hatten in einer entsprechenden Studie bei den Probanden die stärkste Wirkung.
Unterschiede zu Bulimie und Adopisitas
Vor 20 Jahren wurde Binge-Eating noch als passive Bulimie bezeichnet. In beiden Krankheiten befallen die Betroffenen Essanfälle. Bulimiker greifen in der Folge zu unangemessenen Gegenmitteln – Binge-Eater laut der Expertin „eher nicht“ – wobei es natürlich auch Mischformen gibt: Binge-Eater, die beispielsweise exzessiv Sport treiben, um die aufgenommenen Kalorien loszuwerden – oder Abführmittel missbrauchen.
In der Regel führe eine BED aber zu Übergewicht – was sie irgendwann wiederum leicht verwechselbar machen kann mit einer Adipositas. Binge-Eating kann zu Fettleibigkeit (samt ihren bekannten Langzeitfolgen Arthritis, Arthrose, Gicht und hoher Blutdruck) führen; aber nicht jeder adipöse Mensch hat eine BED. Wie man die Krankheitsbilder dennoch unterscheidet, erklärt Rauh gegenüber FITBOOK: „Das Schlüsselwort ist Kontrollverlust. Es gibt Menschen, die sind einfach von Veranlagung aus dick, es gibt welche, die essen gerne und bewegen sich weniger – aber sie haben die Kontrolle.“ Auch wenn diese Menschen an Weihnachten ein paar mehr Kekse essen, machen sie das mit Genuss: „Die Person sitzt nicht allein auf dem Fußboden, reißt die Packung Kekse auf und schlingt alle in sich hinein.“
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Essstörungen
Von 1000 Menschen haben etwa 30 bis 50 eine Essstörung, schreibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Meist treten die Störungen zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr auf. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.
Betroffene können gute Fortschritte in der Psychotherapie machen
Menschen mit einer Binge-Eating-Disorder machen in der Psychotherapie geholfen werden – auch wenn die Essstörung häufig nicht Hauptgrund der Therapie ist. Meist seien es Ängste, posttraumatische Belastungsstörungen oder eine Depression, die die Menschen zu ihr führen. „Erst dann merkt man: Da ist auch eine Essstörung vorhanden“, berichtet Rauh aus ihrem Alltag. Das läge auch daran, dass BED noch nicht so ausführlich untersucht wurde wie Bulimie oder Magersucht. Einfach, „weil es verdeckt sein kann“, so Rauh.
Hat sie das Probem dann erkannt, geht es darum, Auslöser-Situation der Anfälle herauszufinden, ein normales Essverhalten aufzubauen und Heißhungerattacken zu vermeiden. In einem Drittel der Fälle funktioniert dies nach Ansicht der Expertin; ein Drittel gehe nach einer Therapie – die sich mitunter über Jahre hinziehen kann – besser mit der Krankheit um; und ein Drittel schaffe es nicht, die BED zu überwinden.
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Kritisch in diesem Zusammenhang zu sehen: „Cheat Day“
Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang das, was Fitness-Influencer in den Sozialen Medien als Cheat Day abfeiern. Einmal in der Woche sündigen und essen, worauf man Lust hat. Man könnte auch sagen: Es sind gewählte Tage, an denen Fitness-Fans sich den Bauch vollschlagen. Für Menschen mit einer Essstörung könnte der Eindruck entstehen, dass ein Krankheitsbild glorifiziert wird. „Der Unterschied ist, dass andere die Kontrolle behalten“, erklärt Rauh. Binge-Eater könnten sich den Cheat Day für Freitag zwar vornehmen. Aber schon beispielsweise negative Kritik vom Chef am Dienstag reiche, um alles zu ändern.
Falls Sie selbst oder Mitglieder aus Ihrer Familie oder dem Freundeskreis unter Essstörungen leiden, finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wichtige Informationen sowie eine Telefonberatung.