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Selbstversuch

Was das 1. Mal Bouldern mit meinem Körper machte

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Anna Echtermeyer
Redakteurin

11.11.2019, 15:03 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten

Wer in die Höhe will, ist beim Bouldern falsch. Das großartige an diesem Sport sind die vielen kleinen Erfolgserlebnisse, die sofort da sind – findet FITBOOK-Redakteurin Anna Keßler, die es ausprobiert hat.

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Selbstversuch: Bouldern in der Halle
Erst Skepsis, dann großer Spaß: Mein erstes Mal Bouldern. Foto: privat

Gerade, schräge, überhängende bunte Wände, die mit Knöpfen in den verschiedensten Farben bepflastert sind, der gesamte Hallenboden ist mit einer weichen, kniehohen Matte ausgelegt. Darüber klebt jemand wie ein Gekko an einem Überhang und – als wäre das nicht schon spektakulär genug – bewegt sich spinnengleich fort, als gäbe es keine Schwerkraft.

Mein Boulder-Date Eric ist seit drei Jahren hobbymäßig dabei. Zu sagen, er habe Feuer gefangen, wäre untertrieben; Eric verbringt jede freie Minute in der Boulderhalle. Gelangweilt vom eintönigen Krafttraining habe er etwas gesucht, bei dem man sich „auch mal wehtun kann“. Mir schwant Böses für diesen Nachmittag… Erik drückt mir ein Tütchen Chalk hin, ein feines Pulver gegen feuchte Finger am Fels und reicht mir Kletterschuhe. Extra eine Nummer kleiner ausgeliehen. „Damit geht es besser, auch wenn es drückt.“ Los geht’s.

Die Grundregeln beim Hallen-Bouldern

  1. Um vom Start zum Ziel zu gelangen, darf man nur Griffe einer bestimmten Farbe sowie die Wandstruktur selber benutzen.
  2. Nicht mit den Armen hochziehen, sondern mit den Beinen hochdrücken – spart Kraft. Man braucht also keine besonders muskulösen Oberarme. Die werden dafür genutzt, das Gleichgewicht zu halten und die Körperhaltung an der Wand zu stabilisieren.
  3. Eindrehen und Po zur Wand. Indem man den Körperschwerpunkt geschickt verlagert, kann man besser aus den Beinen steigen, in denen man in der Regel mehr Kraft hat. Auch das spart Kraft und macht das Bouldern leichter.
  4. Die Wand mit immer mindestens drei Gliedmaßen berühren (Dreipunkt-Regel). Drei feste Punkte stabilisieren und verteilen das Gewicht optimal auf verschiedene Tritte und Griffe. Will man beispielsweise nach links, führt man den rechten Fuß hinter oder vor dem linken Bein vorbei und drückt die Fußspitze gegen die Kletterwand, um ein unkontrolliertes Herausklappen, offene Tür genannt, zu verhindern. Das minimiert die Gefahr abzurutschen – und spart Energie. Allerdings: Die Dreipunkt-Regel kommt eigentlich aus dem klassischen Klettersport und verliert beim Bouldern zunehmend an Bedeutung. Beim Hallen-Bouldern wird zunehmend mit weniger als drei Fixpunkten geklettert.

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Das Erfolgserlebnis ist sofort da

Eric und ich stehen vor einer 90 Grad senkrecht nach oben ragenden, viereinhalb Meter hohen Wand. Daran sind Kletterknöpfe in unterschiedlichsten Farben und Formen festgeschraubt. Einige lassen sich gut greifen, andere gar nicht. Vorgegeben ist nur der Startpunkt.

Für den Anfang wähle ich Gelb, die einfachste Schwierigkeitsstufe. Für die ganze Route benötige ich etwa eine Minute. Den obersten Griff berühre ich für drei Sekunden mit beiden Händen, wie es die Regel verlangt. Verblüffend, das Erfolgserlebnis ist sofort da! Ich lasse mich rücklings in die Matte fallen.

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In einer ganz anderen Liga bouldert Steffen Schöttker. Videos auf Instagram zeigen den Hamburger, wie er überhängende Wände und Felsen wie eine Spinne hochhuscht. Der 29-Jährige bouldert Wettkämpfe (2. Bundesliga), ordnet sich selbst im „gehobenen Mittelfeld im Amateurbereich“ ein. Es ist nicht ganz leicht, Steffen zu erreichen, weil er jede freie Minute nach der Arbeit in der Boulderhalle verbringt. Pro Woche können das schon mal 25 Stunden sein, und da bleibt das Handy im Spind.

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Ich habe inzwischen ein Date mit der grünen Route für Fortgeschrittene. Um die Griffe und Tritte irgendwie zu erreichen, muss ich mich maximal lang machen. Meine Arme brennen, die Finger tun weh, ich will mich nur noch in die Matte fallen lassen. „Nicht aufgeben, geh weiter!“ ruft Eric. – „Aber wie denn? Das geht nicht!“ Ich muss mich stark konzentrieren, um nicht abzurutschen. An Kreativität und Die-Wand-Lesen ist nicht zu denken. Eric hilft: „Linken Fuß rechts kreuzen, da kannst du ihn abstellen!“ Jetzt würde mir jene Vorstellungskraft helfen, von der Eric gesprochen hat. Ich höre in mich hinein. Geht noch was?

Die Motivationen für das Bouldern sind unterschiedlich. Für Hobby-Boulderer Eric ist es die Gewissheit, dass er an der Wand Grenzen überwinden kann: Ob Beweglichkeit, Kraft, manchmal auch Angst, oder einfach nur die eigene Vorstellungskraft: „Wenn ich dieses Gefühl in der Natur an einem Felsen erleben darf, dann ist es ein vollkommener Tag“, sagt er. Steffen Schöttker fasziniert am Bouldern „die volle Konzentration auf den nächsten Griff und die Koordination von Kraft und Technik, um ihn zu erreichen“.

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Und dann, etwas unheimlich, geht in mir eine kleine Tür auf, ich weiß nicht, ob es Wille oder Kraft ist, aber es geht auf dem grünen Pfad nochmal zwei Schritte weiter für mich. Ich drehe meinen Kopf nach hinten unten und grinse Eric zu. Ein Fehler, denn plötzlich ist die Konzentration weg. Und die Kraft. „Morgen hilft Magnesium und Eincremen“, sagt Eric, nachdem ich meine Angst überwunden und mich aus drei Metern fallen gelassen habe und Adrenalin gepusht auf der Matte liege. Beim Boulder kann man in einem sehr kurzen Zeitraum Erfolg und Niederlage erleben. Das ist schon ziemlich genial.

Bouldern soll sogar bei Depressionen helfen

In genau diesem Zusammenhang sind Forscher der Uni Erlangen derweil noch einem weiteren Boulder-Phänomen auf der Spur: Sie untersuchen, ob Bouldern gegen Depressionen helfen kann. Erste Ergebnisse sind vielversprechend. „Wir konnten herausfinden, dass die Depression im Mittel um einen Schweregrad besser geworden ist und dass der Effekt auch mindestens vier Monate angehalten hat“, sagt Katharina Luttenberger. In einer Pilotstudie haben die Psychologin und ihr Team bereits etwa 100 Teilnehmer untersucht. Eine therapeutische Bouldergruppe wurde mit einer Gruppe Patienten verglichen, die „normal“ versorgt wurde. Das therapeutische Bouldern bringt demnach etwa so viel wie die besten etablierten Therapieverfahren.

Auch aus Sicht des Sportwissenschaftlers und Gesundheitsberaters Dr. Michael Despeghel spricht einiges dafür, dass Bouldern depressiven Patienten hilft. „Bei Depressionen hat man ein Dauerstimmungstief, das man kaum noch beeinflussen kann und eine kreisende Gedankenmühle, in der Traurigkeit mit Angst gekoppelt ist“, sagt Despeghel zu FITBOOK.

Dass Sport bei Depressionen helfen kann, sei inzwischen durch zahlreiche Studien gut belegt, sagt Andreas Ströhle, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Durch die Aktivität komme es zu verschiedenen Veränderungen im Körper: Die „Glückshormone“ Serotonin und Dopamin sowie bestimmte Nervenwachstumsfaktoren seien besser verfügbar; und auch auf das Stresshormonsystem wirke sich Bewegung langfristig positiv aus.

Gedankenmühle wird unterbrochen

Anders als Radfahren, Laufen oder Schwimmen – Sportarten mit relativ monotonem Bewegungsablauf, bei denen man seinen Gedanken wunderbar nachhängen kann – hat Bouldern einen entscheidenden Vorteil: Es unterbricht die bei Depression so häufige Gedankenmühle und hilft den Betroffenen damit, im Hier und Jetzt zu sein: Welche Route nehme ich? Was ist mein Plan? Schließlich muss jeder Griff sitzen.

Die daraus resultierende Belohnung sei gut für das Selbstwertgefühl, welches wiederum Angst kompensiere. „Angst löst sich nur, wenn man durch sie hindurchgeht“, so Despeghel. Bin ich in der Lage, Probleme zu lösen? Beim Bouldern erhält man auf diese Frage sofort eine Antwort. „Depressive Menschen können sich wieder spüren und fühlen sich nicht mehr so leer, weil es beim Bouldern wechselnde Emotionen gibt“, sagt Despeghel zu FITBOOK. Am Ende ist man voller Freude und kann nach und nach den Schwierigkeitsgrad steigern.

Das Klettern ohne Seil hat zwei weitere, psychologisch nützliche Effekte: Ohne Sicherung muss jeder für sich selbst die Verantwortung übernehmen. Nicht zu unterschätzen sei zudem die soziale Komponente: „Wenn andere uns zuschauen können, entwickeln wir Ehrgeiz“, erklärt Despeghel.

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Nach einer Stunde bin ich kräftemäßig am Ende

Nach einer Stunde Bouldern bin ich kräftemäßig am Ende. Ich schaue Eric zu, wie er seinen Körper in der Wand mit einem Sprung nach oben hievt und mit der rutschfest geweißelten Hand nach einem Knopf greift, der aus meiner Sicht eigentlich nicht zu greifen ist. Faszinierend zu sehen, dass es eben doch geht. „Wie machst du das?“, frage ich ihn. Er verrät mit eine alte Boulder-Weisheit: „Nie aufgeben. Wenn nichts mehr geht, dann geht noch was!“

Am nächsten Tag blicke ich auf meine gerissenen Blasen-Hände. Sie sehen aus, als hätte ich mit ihnen einen Acker umgegraben und anschließend mit Schmirgelpapier bearbeitet. Meine Handinnenflächen brennen so stark, dass ich die Kaffeetasse nicht greifen kann. Mir fällt der Tipp von Eric ein: „Morgen hilft Cremen und Magnesium.“ Immerhin: Der Muskelkater ist erträglich.

Übrigens: Die Kosten beim Bouldern sind mit Eintritt und Leih-Kletterschuhen für insgesamt etwa 15 Euro überschaubar. Wer abends geht, spart manchmal zusätzlich.

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