Muss ich mich dehnen oder reicht Krafttraining aus, um beweglich zu bleiben? Diese und ähnliche Fragen stellen Studierende Fitnessprofessor Dr. Stephan Geisler nahezu in jeder Vorlesung. Sie erhoffen sich dann meist eine simple Antwort. Doch das Thema ist, wie so oft in der Wissenschaft, etwas komplexer. Bei FITBOOK versucht der Fitnessprof, etwas Licht ins Dunkel zu bringen.
Um die Frage zu klären, ob man mithilfe des richtigen Krafttrainings aufs Dehnen verzichten kann, möchte ich zunächst kurz erklären, was bei einer Dehnung überhaupt im Muskel passiert: Stellt man sich den Muskel in seiner kleinsten Einheit (den Sarkomeren) vor, gibt es eine Überlappung von winzigen Eiweißmolekülen (Aktin und Myosin). Diese überlappen sich stärker, wenn der Muskel sich anspannt bzw. kontrahiert.

Abbildung: Sarkomer in Ruhe bzw. gedehnt vs. unter Spannung bzw. kontrahiert. Quelle: De Marees, Sportphysiologie, Sportverlag Strauss, Köln.
Wird der Muskel gedehnt, wird diese sogenannte Querbrückenbildung wieder auseinander gezogen und die Sarkomere verlängern sich. Natürlich nur bis zu einem gewissen Grad, ansonsten würde der Muskel sich verletzen. Wie weit sich die Strukturen hier auseinanderziehen lassen, ist vor allem durch unsere Nerven geregelt. Ein entspannter Körper kann sich wesentlich besser dehnen, als ein angespannter. Aus klinischen Versuchen weiß man, dass Menschen unter Narkose eine extreme „ad hoc“ Beweglichkeit in den Gelenken bekommen.
Dehnen – Vorteile für Beweglichkeit und Gesundheit
Dem Dehnen wurden in der Vergangenheit bereits zahlreiche positive Eigenschaften zugesprochen. So braucht man für einige Sportarten einfach eine gewisse Beweglichkeit. Und ein Gewichtheber muss zum Beispiel viel beweglicher sein als ein Kugelstoßer.
Neuere Studien zeigen zum Beispiel, dass Dehnung sogar gut für unser Herz-Kreislauf-System sein kann. Vermutet wird, dass durch die Ausschüttung ganz bestimmter Substanzen vor allem unsere Blutgefäße profitieren und geschmeidig bleiben. Laut einer Studie der Universität Saskatchewan in Kanada kann das Dehnen sogar einen positiven Effekt auf den Blutdruck haben.
Weitere Infos finden Sie in folgendem Video:
Auch interessant: Dehnen und Krafttraining – worauf Sie achten sollten
Erzielt Krafttraining bei großem Bewegungsumfang ähnlichen Effekt wie Dehnen?
Doch zurück zur ursprünglichen Fragestellung: Muss man sich unbedingt dehnen oder reicht es vielleicht aus, in einem möglichst großen „Range of Motion“ (Bewegungsumfang) Krafttraining zu machen? Dieser Fragestellung hat sich eine Forschergruppe aus Portugal angenommen und eine Übersichtsarbeit¹ mit elf inkludierten wissenschaftlichen Artikeln und insgesamt 452 Proband*innen erstellt. Das Ergebnis lautet – Trommelwirbel:
Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen einem Dehntraining und einem Krafttraining über die „Full Range of Motion“.
Eine mögliche Erklärung könnte gerade in der exzentrischen Phase des Trainings liegen – also der Phase, wenn das Gewicht langsam und kontrolliert herabgelassen wird und der Muskel sich quasi in die Verlängerung begibt. Hier scheinen ähnliche Beweglichkeit-steigernde Prozesse abzulaufen wie beim normalen Stretching. Daher schließe ich hier dann doch mal mit einer einfachen Aussage: Ja, wenn man sein Krafttraining mit möglichst großem Bewegungsradius durchführt, kann man sich wahrscheinlich das Stretching danach sparen.
Fazit
Aber was wäre ich für ein Wissenschaftler, wenn ich nicht zum Schluss noch so etwas schreiben würde wie: „Aber weitere Studien werden benötigt, um die Evidenzbasierung zu stärken.“ Und Apropos „Stärken“: Krafttraining ist und bleibt eben der beste Allrounder im Sport. Also nicht lang reden – Hanteln!
Quellen:
1. Afonso, J., Ramirez-Campillo, R., Moscão, J., Rocha, T., Zacca, R., Martins, A., Milheiro, A., Feirreira, J., Sarmento, H., Clemente, F. M. (2021). Strength training is as effective as stretching for improving range of motion: A systematic review and meta-analysis.