
17. Juli 2025, 15:20 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Bewegungsmangel gilt oft als Hauptschuldiger der weltweiten Adipositas-Epidemie. Schnell hat man das Bild einer bürotätigen Person vor Augen, die seltenst 10.000 Schritte am Tag macht. Allerdings zeigt eine internationale Untersuchung: Menschen in Industrieländern verbrennen mehr Kalorien als Menschen in wirtschaftlich schwächer entwickelten Nationen. Dennoch sind sie deutlich häufiger übergewichtig. Bei der Entstehung von Adipositas spielt offenbar die körperliche Aktivität eine weniger wichtige Rolle als die Ernährung. Kein Schock für FITBOOK-Ernährungsexpertin Sophie Brünke, die die größten Übeltäter in der westlichen Ernährungsweise kennt.
Um die Debatte um den Hauptübeltäter bei der Entstehung von Übergewicht zu beenden, betrachtete ein Forschungsteam der amerikanischen Duke University die Energieumsätze und Körperzusammensetzungen von 4.213 Erwachsenen zwischen 18 und 60 Jahren aus 34 Bevölkerungsgruppen auf sechs Kontinenten. Die Auswahl reichte von Jägern und Sammlern über Bauern bis hin zu Bewohnern von Industrienationen. Die Wissenschaftler verglichen dabei nicht nur Gesamtenergieverbrauch, Grundumsatz und körperliche Aktivität, sondern auch Körperfettanteil und Body-Mass-Index (BMI). Zur Einordnung des Entwicklungsniveaus wurde der Human Development Index (HDI) der UN genutzt.1
Adipositas-Epidemie ist für Millionen von Todesfällen verantwortlich
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt die Häufigkeit von Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen und Kindern weiter zu. Der Anteil Erwachsener, die an Adipositas erkrankt sind, hat sich von 1990 bis 2022 von sieben auf 16 Prozent mehr als verdoppelt. Bei Kindern und Jugendlichen im Alter von fünf bis 19 Jahren haben sich die Fallzahlen vervierfacht – von zwei auf acht Prozent.2 Folgen können unter anderem Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein. Pro Jahr ist Übergewicht für über vier Millionen Todesfälle weltweit verantwortlich.3
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Studie zeigt: Ernährung 10-mal wichtiger als Bewegung bei Adipositas
Wie zu erwarten kam die Studie zu dem Schluss, dass Menschen in Industrienationen einen höheren BMI und Körperfettanteil aufwiesen. Das Kuriose: Sie hatten auch einen höheren Grund- sowie Gesamtenergieumsatz. Die Differenz zwischen beiden Werten gibt Rückschlüsse auf die körperliche Aktivität, welche ebenfalls mit steigendem Entwicklungsindex leicht zunahm. Die These, Menschen in Industrieländern bewegten sich einfach zu wenig und nähmen deshalb zu, hält sich also nicht. Mehr noch: Die Unterschiede im Energieverbrauch zwischen den Bevölkerungsgruppen konnten nur etwa ein Zehntel des Unterschieds in Körperfett und BMI erklären, der mit wirtschaftlicher Entwicklung einhergeht. Plakativ gesagt: Ernährung trägt etwa zehnmal stärker zum Anstieg von Adipositas bei als Bewegungsmangel.
Der Übeltäter schmeckt vielen
Als die Autoren folgend auf diese Erkenntnis einen genaueren Blick auf die Ernährung warfen, zeigte sich, dass „der prozentuale Anteil von UPF (Ultra-Processed Foods, A. d. R.) in der Ernährung positiv mit dem Körperfettanteil korreliert“ war. Wenn also der Anteil von verarbeitetem Fleisch, Fertiggerichten oder Süßigkeiten höher in der Ernährung war, stieg auch das Gewicht. Dabei definierte die Studie UPFs als Produkte aus fünf oder mehr Zutaten.

Studie bestätigt, was man in der Praxis sieht
„Verwunderlich finde ich die Ergebnisse nur bedingt. Ich erlebe häufig, dass Menschen überschätzen, wie viele Kalorien sie in einer Session Sport verbrennen können. So muss man bspw. im Schnitt fünf Kilometer joggen, um ein Croissant wieder loszuwerden. Für mich unterstreicht die Studie allerhand Sprüche wie ‚Du bist, was du isst’ oder ‚Abs are made in the kitchen’, die schon seit geraumer Zeit die Wichtigkeit der Ernährung in den Vordergrund stellen – selbst wenn es um ein Sixpack geht. Und in einer Umgebung voller hochverarbeiteter Lebensmittel leuchtet das ein: Ein 500-Milliliter-Eisbecher ist schnell ausgelöffelt, doch die ca. 1000 Kalorien müssen mühsam eingespart und abtrainiert werden. Die Ernährung muss stimmen – insbesondere im Kampf gegen Adipositas – sonst hilft auch das beste Training nicht.“
Einordnung der Studie
Diese Studie ist die bisher umfassendste empirische Untersuchung zum Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, Energieverbrauch und Adipositas. Dennoch handelt es sich um eine Querschnittsstudie, bei der alle Daten zu einem bestimmten Zeitpunkt erhoben wurden. Kausale Aussagen – etwa, dass eine höhere Aufnahme von UPFs direkt zu einem höheren Körperfettanteil führt – können nicht belegt werden. Zudem lagen detaillierte Ernährungsdaten nur für 25 der 34 Gruppen vor, was die Aussagekraft in Bezug auf den Einfluss einzelner Nahrungsmittelgruppen begrenzt. Dennoch legen die Ergebnisse nahe, dass die Ernährung in Industrieländern die entscheidende Stellschraube zu sein scheint.
3 Gründe, warum ich als Ernährungsexpertin von UPFs abrate
Dass in Industrieländern mehr UPFs auf den Tellern landen, könnte mit ihrer allgegenwärtigen Verfügbarkeit, langen Haltbarkeit und ihren niedrigen Preisen zusammenhängen. Praktisch klingt das allemal – doch gesundheitlich ist von diesen abzuraten.
Gestörte Sättigung
Durch einfache Zucker und viel Fett schmecken hochkalorische UPFs besonders gut und verleiten dazu, über das Sättigungsgefühl hinaus zu essen. Mehr noch: Eine hochkalorische Ernährungsweise stört das natürliche Sättigungsgefühl, da sie die Empfindlichkeit von Insulin (dem „Sättigungshormon“) herabsetzt. Dies ist besonders prekär für Übergewichtige, da bei ihnen häufig bereits eine Störung von Hunger und Sättigung vorliegt. Ein Teufelskreis beginnt.
Effizientere Energieaufnahme
UPFs kommen selten mit Ballaststoffen daher, die den Blutzuckerspiegel regulieren und lange satt halten. Eher sind sie schnell verdaut und die Kalorien effizient von unseren Darmbakterien herausgearbeitet – Ballaststoffe liefern hingegen keine oder kaum Kalorien. Eine Studie, die sich die westliche Ernährung anschaute (welche durch UPFs geprägt ist), kam sogar zu dem Schluss, dass industriell verarbeitete Nahrung vom Körper effizienter aufgenommen und weniger Energie über den Stuhl ausgeschieden wird. Der Unterschied zu einer Darmflora-freundlichen Diät belief sich in der Studie auf stolze 116 Kalorien pro Tag!4
Nährstoffprofile aus der Hölle
Die fehlenden Ballaststoffe sind nur die Spitze des Eisbergs. Zucker, gesättigte Fettsäuren und Transfette sind eine Kombination, die Entzündungswerte im Körper in die Höhe treiben und zu chronischen Erkrankungen führen.
Kürzlich verglich eine Studie die Kostzusammensetzung von westlicher und nordafrikanischer Ernährung (FITBOOK berichtete). Stiegen Probanden, die sich westlich ernährten, auf die von Gemüse, Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten und fermentierten Lebensmitteln geprägte Chagga-Diät um, verbesserten sich ihre Entzündungswerte innerhalb von zwei Wochen.

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Die Studie ist dennoch keine Ausrede für Sportmuffel
Wer jetzt glaubt, er könne die Sporttasche getrost an den Nagel hängen, hat falsch gedacht. Die Studienautoren empfehlen dennoch, sich regelmäßig zu bewegen, da Sport zur Prävention von körperlichen und psychischen Krankheiten beiträgt. So kann Sport etwa das Leben verlängern, macht bereits in kleinen Dosen glücklich und hilft auch, wenn man schon erkrankt ist, z. B. an Diabetes Typ 2.