19. September 2024, 4:37 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Müdigkeit, Übelkeit und Erbrechen sind wohl die klassischsten körperlichen Symptome, wenn man an eine Schwangerschaft denkt. Doch der Körper von Schwangeren verändert sich offenbar vielschichtiger als bisher bekannt – auch im Gehirn. Wissenschaftler der University of California haben kürzlich die erste detaillierte Karte des menschlichen Gehirns während der Schwangerschaft vorgelegt.
Während der Schwangerschaft durchlebt der Körper rasche physiologische Veränderungen, um sich auf die Geburt und Stillzeit vorzubereiten – das ist bekannt. Welche Frage bisher jedoch unbeantwortet blieb, ist die, was die weitreichenden hormonellen Veränderungen während der Schwangerschaft mit dem Gehirn machen. Ein Team von Neurowissenschaftlern an der UC Santa Barbara konnten nun mit der allerersten Karte des menschlichen Gehirns im Verlauf der Schwangerschaft Licht in diesen wenig erforschten Bereich bringen.
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Übersicht
Hormone führen zu neuronalem Umbau
Die Autoren der Studie erklären, dass die tiefgreifenden physiologischen Veränderungen während der Schwangerschaft durch eine 100- bis 1000-fache Steigerung der Hormonproduktion ermöglicht wird. Beteiligt sind unter anderem Östrogen und Progesteron. Diese Hormone führen außerdem zu einer erheblichen Umstrukturierung des zentralen Nervensystems. Frühere Erkenntnisse aus Tiermodellen und Humanstudien geben Hinweise darauf, dass eine Schwangerschaft eine Phase bemerkenswerter Neuroplastizität ist. Sprich: Es kommt zum Umbau einzelner Nervenzellen bis hin zu ganzen Hirnarealen.1
Laura Pritschet, Hauptautorin der Studie, erklärt in einer Mitteilung der Universität: „Wir wollten den Verlauf der Gehirnveränderungen speziell innerhalb der Schwangerschaftsphase untersuchen.“ Weiterhin erklärte sie, dass frühere Studien zwar Schnappschüsse des Gehirns vor und nach der Schwangerschaft gemacht hätten, aber das schwangere Gehirn nie zuvor mitten in der Metamorphose beobachtet wurde.2
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Schwangere Probandin nahm an 26 MRT-Scans teil
Für die detaillierte Bildgebung des Gehirns arbeiteten die Wissenschaftler mit einer gesunden 38-jährigen Erstgebärenden zusammen, welche via In-vitro-Fertilisation (IVF) künstlich befruchtet wurde. Ihr Gehirn wurde erstmals drei Wochen vor der Befruchtung durch Magnetresonanztomografie (MRT) gescannt und sie unterzog sich über den Zeitraum der Schwangerschaft bis zwei Jahre nach der Geburt weiteren Aufnahmen. Insgesamt bildeten die Forscher ihr Gehirn 26-mal ab. Außerdem entnahmen sie ihrer Probandin während des Untersuchungszeitraums Blutproben.
Prozesse im Gehirn ähneln denen in der Pubertät
Die deutlichste Veränderung, welche die Wissenschaftler im Gehirn ihrer Probandin feststellten, war eine Abnahme des Volumens der grauen Hirnsubstanz; der faltige äußere Teil des Gehirns. Mit dem Anstieg der Hormonproduktion während der Schwangerschaft ging das Volumen der grauen Substanz zurück. Und das in 80 Prozent der 400 untersuchten Hirnregionen. Auch wenn dies erst mal beängstigend klingt, sei es nicht unbedingt etwas Schlechtes, betonten die Wissenschaftler. Diese Veränderung könnte auf ein „Finetuning“ der Gehirnschaltkreise hinweisen, ähnlich zu den Prozessen im Hirn junger Erwachsener während der Pubertät. Eine Schwangerschaft spiegele wahrscheinlich eine weitere Phase der kortikalen Verfeinerung wider.
Während die graue Substanz abnahm, nahm die weiße zu
Eine weniger offensichtliche, aber ebenso bedeutsame Beobachtung der Forscher war eine deutliche Zunahme der weißen Substanz. Diese liegt tiefer im Gehirn und ist im Allgemeinen für die Kommunikation zwischen den Gehirnregionen zuständig. Während der Rückgang der grauen Substanz noch lange nach der Geburt anhielt, war der Anstieg der weißen Substanz nur von kurzer Dauer. Ihr Volumen erreichte im zweiten Trimester seinen Höhepunkt. Dann kehrte es um den Geburtszeitpunkt herum auf das Niveau vor der Schwangerschaft zurück. Dieser Effekt zeigte sich laut den Wissenschaftlern nie zuvor auf Vorher-Nachher-Scans. Das ermögliche eine bessere Einschätzung, wie dynamisch das Gehirn in relativ kurzer Zeit sein kann. So könne die „choreographierte Veränderung“ des mütterlichen Gehirns, wie Studienautorin Emily Jacobs die Umstrukturierung bezeichnete, Anpassungen des Verhaltens in der Elternschaft unterstützen.
Einordnung der Studie
Die Studienergebnisse sind von Bedeutung, da sie erstmals detaillierte Aufnahmen des Gehirns vor, während und nach einer Schwangerschaft abbilden und Veränderungen offenbaren, die Millionen von Frauen jährlich durchlaufen. Da die Untersuchungsreihe lediglich eine Probandin einbezog, bleibt vorerst unklar, inwieweit die Ergebnisse auf die breite Bevölkerung übertragen werden könnten. Vielmehr liefert die Studie wichtige Grundlagen für die Durchführung weiterer bildgebender Studien während der Schwangerschaft mit einer höheren Teilnehmeranzahl.
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Zukünftige Forschung zum menschlichen Gehirn
Hauptautorin Pritschet erklärte, dass Schwangerschaften in der Neurowissenschaft kein Nischenthema sein dürfen. Denn die Erkenntnisse würden „unser allgemeines Verständnis des menschlichen Gehirns, einschließlich seines Alterungsprozesses, vertiefen.“ Außerdem erhoffe sie sich ein Brechen des Dogmas, dass Frauen während der Schwangerschaft besonders fragil seien.
Die in der aktuellen Studie gewonnenen Daten dienen nun als Ausgangspunkt für zukünftige Studien, um herauszufinden, ob das Ausmaß oder die Geschwindigkeit der Veränderungen im Gehirn Hinweise auf das Risiko einer Frau für eine postpartale Depression geben. Dabei handelt es sich um eine neurologische Erkrankung, die etwa jede fünfte Frau betrifft. „Es gibt jetzt von der FDA zugelassene Behandlungen für postpartale Depressionen“, sagte Pritschet, „aber eine Früherkennung ist nach wie vor schwierig. Je mehr wir über das mütterliche Gehirn lernen, desto größer sind unsere Chancen, Linderung zu verschaffen.“
Mit Unterstützung der Ann S. Bowers Women’s Brain Health Initiative, welche Jacobs leitet, beabsichtigt ihr Team im Rahmen des „Maternal Brain Project“ auf diesen Erkenntnissen aufzubauen. So werden weitere Frauen und ihre Partner in fortlaufende Studien aufgenommen. Jacobs verfolgt hierbei eine klare Vision: „Gemeinsam haben wir die Möglichkeit, einige der dringendsten und am wenigsten verstandenen Probleme der Frauengesundheit anzugehen.“