
18. Juni 2025, 12:55 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Schwindel im Alter gilt als harmlos. Doch stimmt das wirklich? Eine groß angelegte Studie aus Deutschland hat untersucht, ob eine Störung des Gleichgewichtssinns – langfristig auch Auswirkungen auf die geistige Gesundheit haben kann. Im Fokus steht dabei ein möglicher Zusammenhang mit Alzheimer. Die Forscher liefern Hinweise auf ein bislang unterschätztes Risiko.
Viele ältere Menschen erleben Schwindel, wackeliges Gehen oder verlieren leicht die Orientierung. Oft liegt das am Gleichgewichtsorgan im Innenohr, das mit zunehmendem Alter schwächer wird. Fachleute sprechen dann von einer sogenannten „vestibulären Dysfunktion“. Bisher wurde diese Störung vor allem mit Stürzen oder eingeschränkter Beweglichkeit in Verbindung gebracht. Doch könnte sie auch das Gehirn beeinflussen? Forscher der LMU Klinikum München und des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) haben es untersucht – und sind auf einen überraschenden Zusammenhang zwischen Schwindel und Alzheimer gestoßen. 1
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Übersicht
Was und warum wurde untersucht?
Ziel der Münchner Forscher war es, zu prüfen, ob eine periphere vestibuläre Dysfunktion (PVD) – also eine Störung des Gleichgewichtsorgans, die häufig mit Schwindel einhergeht – das Risiko für Alzheimer erhöhen kann. Die vestibuläre Funktion steht in enger Verbindung mit dem Gehirn, insbesondere mit dem Hippocampus. Diese Hirnregion ist für Gedächtnis und räumliche Orientierung zuständig und schrumpft bereits früh im Verlauf der Alzheimer-Krankheit.
Frühere Studien hatten gezeigt, dass Menschen mit intensiver räumlicher Navigation – etwa Londoner Taxifahrer – einen vergrößerten Hippocampus aufweisen und seltener an Alzheimer sterben.
Auch wurde bereits vermutet, dass aktive vestibuläre Reize – also Gleichgewichtsimpulse – die Größe des Hippocampus beeinflussen. Vor diesem Hintergrund wollten die Forschenden klären, ob vestibuläre Störungen mit Schwindelsymptomatik ein unabhängiger Risikofaktor für Alzheimer sind – oder lediglich ein frühes Begleitsymptom einer beginnenden Demenz.
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Studiendesign und Methoden
Die Forschenden analysierten Daten von über insgesamt 291.240 Personen über 55 Jahren aus der UK Biobank, die zu Beginn der Untersuchung noch keine Demenzdiagnose hatten. Davon waren 155.871 Frauen und 135.369 Männer.
Damit die Ergebnisse möglichst zuverlässig sind, berücksichtigte das Forschungsteam auch 16 andere bekannte Risikofaktoren für Alzheimer – zum Beispiel Bluthochdruck, Diabetes, Depression, Übergewicht, Rauchen und Bewegungsmangel. So konnten sie ausschließen, dass das erhöhte Risiko durch andere Ursachen erklärt wird.
Am Ende gaben sie das Ergebnis als sogenannte Odds Ratio (OR) an. Diese Kennzahl zeigt, wie stark ein bestimmter Faktor – hier die Gleichgewichtsstörung – das Erkrankungsrisiko beeinflusst.
Was ist das Ergebnis der Studie?
Im Laufe des Untersuchungszeitraums erkrankten 4684 der insgesamt 291.240 Personen (1,6 Prozent) an Alzheimer. Erstaunlich war aber diese Zahl: 45 Prozent der Erkrankten (2133) litten unter einer „vestibulären Dysfunktion“. Die Gleichgewichtsstörung verursacht Schwindel.
Das zeigt: Menschen mit einer Gleichgewichtsstörung hatten ein um 70 Prozent höheres Risiko, an Alzheimer zu erkranken – auch wenn andere Risikofaktoren bereits berücksichtigt wurden. Das bedeutet: Sie erkrankten deutlich häufiger als Menschen ohne solche Störungen. Die Studienergebnisse wurden Ende März 2025 im „Journal of Neurology“ veröffentlicht.
Für den Zusammenhang zwischen Schwindel und Alzheimer vermuten zwei mögliche Erklärungen:
- Gleichgewichtsstörungen können zu Veränderungen im Hippocampus führen – also genau in dem Gehirnbereich, der bei Alzheimer besonders früh betroffen ist.
- Möglicherweise wird auch ein wichtiges Gehirnnetzwerk, das sogenannte „Default Mode Network“, gestört. Dieses ist bei vielen Denkprozessen aktiv – etwa wenn man sich an etwas erinnert oder über sich selbst nachdenkt – und spielt bei Alzheimer ebenfalls eine Rolle.
Welche Rolle spielt Schwindel als Risikofaktor für Alzheimer?
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Gleichgewichtsorgan im Innenohr viel wichtiger für die geistige Gesundheit ist, als bisher gedacht. Bisher lag der Fokus bei Alzheimer-Risikofaktoren eher auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck oder Diabetes. Jetzt zeigt sich: Auch sensorische Systeme, also unsere Sinnesorgane, könnten eine große Rolle spielen.
Das ist relevant – denn der Gleichgewichtssinn lässt sich gezielt trainieren und therapeutisch beeinflussen. Denkbar sind Balanceübungen, spezielle Physiotherapie oder technische Verfahren zur Stimulation des Gleichgewichtsorgans. Ärzte sollten Schwindel – gerade bei älteren Menschen – nicht nur als Gleichgewichtsproblem sehen, sondern auch als mögliches frühes Warnzeichen für Alzheimer ernst nehmen.
Einordnung der Studie und mögliche Einschränkungen
Die Studie basiert auf einer sehr großen und qualitativ hochwertigen Datenbasis – das macht die Ergebnisse zuverlässig. Auch wurden viele bekannte Einflussfaktoren berücksichtigt. Aber: Es handelt sich um eine Beobachtungsstudie. Die Forschenden haben zwar einen Zusammenhang festgestellt, wissen aber noch nicht, ob Gleichgewichtsstörungen Alzheimer verursachen – oder ob sie möglicherweise schon ein frühes Anzeichen der Krankheit sind.
Außerdem basieren die Diagnosen auf Einträgen in Krankenakten und nicht auf ausführlichen klinischen Tests. Es könnten also auch einzelne Fälle übersehen oder falsch zugeordnet worden sein. Ein weiterer Punkt: Einige der beteiligten Forschenden haben Verbindungen zur Pharmaindustrie, z. B. durch Vorträge oder Beratungen. Diese hatten aber laut Angaben keinen Einfluss auf die Studie selbst.
Insgesamt ist die Analyse ein starker Hinweis auf einen neuen Risikofaktor – nun braucht es weitere Studien, um die genauen Zusammenhänge zu verstehen.

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Fazit
Die Studie zeigt: Eine gestörte Gleichgewichtsfunktion erhöht das Risiko für Alzheimer deutlich – selbst wenn andere Risikofaktoren berücksichtigt werden. Ärzte sollten das Gleichgewichtsorgan daher nicht nur im Zusammenhang mit Sturzgefahr oder Bewegungseinschränkungen beachten, sondern auch im Hinblick auf die geistige Gesundheit im Alter. Weil sich der Gleichgewichtssinn gezielt fördern und trainieren lässt, könnte dies ein neuer Ansatz sein, um Demenz vorzubeugen. Weitere Forschung soll zeigen, wie wir diesen Zusammenhang in der Praxis nutzen können.