
17. Juni 2025, 14:58 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Hormonelle Verhütung gilt als praktisch, effektiv – und weitgehend sicher. Doch gilt das auch für die langfristige Einnahme? Eine neue groß angelegte Studie aus Frankreich wirft nun einen kritischen Blick auf die Mini-Pille mit dem Wirkstoff Desogestrel und kommt zu dem Schluss: Bei jahrelanger Nutzung steigt das Risiko für bestimmte gutartige Hirntumoren messbar an. Für ein anderes häufig eingesetztes Hormon – Levonorgestrel – zeigt sich hingegen kein erhöhtes Risiko.
Millionen Frauen greifen täglich zur Pille – aus gutem Grund: Sie schützt zuverlässig vor ungewollter Schwangerschaft und ist in vielen Fällen gut verträglich. Doch hormonelle Präparate stehen auch immer wieder in der Kritik, etwa wegen möglicher Risiken für die Gesundheit. Eine umfassende neue Studie aus Frankreich ist jetzt der Frage nachgegangen, ob bestimmte Wirkstoffe in der Pille das Risiko für sogenannte Meningeome – also gutartige Tumoren an den Hirnhäuten – erhöhen. Besonders im Fokus: die Mini-Pille mit Desogestrel. Die Ergebnisse liefern wichtige Hinweise für Langzeitanwenderinnen – und zeigen zugleich, dass nicht jede Pille gleich zu bewerten ist.
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Übersicht
- Was und warum wurde untersucht?
- Studiendesign und Methoden
- Relatives Risiko für Meningeom steigt durch Langzeiteinnahme bestimmter Mini-Pillen
- Welche Bedeutung haben die Ergebnisse?
- Einordnung der Studie und mögliche Einschränkungen
- Erhöhtes Risiko auch bei Depo-Spritze – Sammelklage gegen Pfizer in den USA
- Fazit
- Quellen
Was und warum wurde untersucht?
Meningeome sind Tumoren, die sich aus den Hirnhäuten entwickeln. Sie sind meist gutartig, können aber – je nach Lage – das Gehirn oder wichtige Nervenstrukturen beeinträchtigen und müssen dann operiert werden. Frühere Studien haben gezeigt, dass hoch dosierte Hormonpräparate (z. B. Cyproteronacetat oder Nomegestrol) dieses Risiko deutlich erhöhen können.1
Unklar war bisher, ob auch niedrig dosierte Wirkstoffe, wie sie in der Verhütungspille vorkommen, ein Risiko bergen – vor allem, wenn sie über Jahre hinweg eingenommen werden. Die Forscher wollten deshalb herausfinden, ob es bei den beiden häufig verwendeten Gestagenen Desogestrel und Levonorgestrel einen Zusammenhang mit operierten Meningeomen gibt – und ob die Dauer der Anwendung dabei eine Rolle spielt. Besonders relevant ist das, da Desogestrel in Europa sehr verbreitet ist – etwa neun von zehn reinen Gestagenpillen enthalten diesen Wirkstoff.2
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Studiendesign und Methoden
Die Studie nutzte Daten aus dem französischen Gesundheitssystem, das nahezu die gesamte Bevölkerung erfasst. Zwischen 2020 und 2023 wurden 8391 Frauen identifiziert, die wegen eines Meningioms am Gehirn operiert wurden. Diese wurden mit über 83.000 Frauen ohne Meningiom verglichen – angepasst nach Alter und Wohnort.
Untersucht wurde die Einnahme von drei verschiedenen Pillenarten:
- Mini-Pille mit Desogestrel (75 Mikrogramm)
- Pille mit Levonorgestrel (30 Mikrogramm)
- Kombinationspille mit Levonorgestrel und Östrogen
Dabei wurde die Dauer der Einnahme berücksichtigt: „Kurzfristig“ bedeutete bis zu einem Jahr, „langfristig“ mehrere Jahre in Folge. Auch weitere Risikofaktoren wie Übergewicht, Endometriose oder frühere Einnahme anderer Hormone wurden mit einbezogen. Das Ziel: möglichst realistische, alltagsnahe Aussagen über die Sicherheit der Präparate.
Relatives Risiko für Meningeom steigt durch Langzeiteinnahme bestimmter Mini-Pillen
Die zentrale Erkenntnis: Frauen, die die Mini-Pille mit dem Wirkstoff Desogestrel länger als fünf Jahre durchgehend eingenommen hatten, wiesen ein langfristig erhöhtes Risiko auf, einen operierten Hirntumor vom Typ „Meningeom“ zu entwickeln. Das sind langsam wachsende Tumoren, die von den Hirnhäuten ausgehen. Für die Studie wurde nur ein Ausschnitt aller Meningeome betrachtet. Solche, die „nur“ beobachtet oder bestrahlt wurden, sind nicht Teil der Auswertung.
- Bei kurzfristiger Einnahme von Desogestrel (unter einem Jahr) gab es kein erhöhtes Risiko für ein Meningeom mit Operation
- Bei 5 bis 7 Jahren durchgehender Einnahme stieg das Risiko um 51 Prozent.
- Bei 7 oder mehr Jahren lag das Risiko mehr als doppelt so hoch wie bei Nicht-Anwenderinnen.
- Das Risiko verschwand wieder, wenn die Einnahme mehr als ein Jahr zuvor beendet wurde.
Besonders auffällig war das erhöhte Risiko bei Tumoren an der vorderen und mittleren Schädelbasis – typische Stellen für hormonabhängige Meningeome. Außerdem war das Risiko besonders hoch bei Frauen, die zuvor bereits andere Hormone mit bekanntem Risiko eingenommen hatten. Für Levonorgestrel, egal ob allein oder kombiniert mit Östrogen, zeigte sich kein erhöhtes Risiko, selbst bei längerer Einnahme.
Zahl der Betroffenen gering
Die Studie zeigt aber auch: Die absolute Zahl der Betroffenen bleibt sehr gering. Nach Berechnungen der Forscher müsste man 67.300 Frauen Desogestrel über einen längeren Zeitraum geben, um einen zusätzlichen Tumorfall zu verursachen. Bei Einnahmedauer über fünf Jahre wären es 17.300 Frauen pro Fall.
Welche Bedeutung haben die Ergebnisse?
Für die meisten Frauen sind die Ergebnisse kein Grund zur Sorge – aber ein Anlass, bewusster mit der Pille umzugehen. Wer die Mini-Pille mit dem Wirkstoff Desogestrel nur für wenige Jahre nimmt, muss sich laut Studie keine Gedanken über ein erhöhtes Hirntumor-Risiko machen. Auch jüngere Frauen (unter 45 Jahren) haben bei üblicher Anwendung kein erhöhtes Risiko.
Wichtig ist das Ergebnis für:
- Frauen, die Desogestrel über viele Jahre hinweg eingenommen haben,
- Frauen über 45 Jahre, bei denen das grundsätzliche Risiko für Meningeome altersbedingt ohnehin steigt, sowie für
- Frauen, die zuvor andere risikobehaftete Hormone verwendet haben.
In solchen Fällen sollte regelmäßig geprüft werden, ob eine Fortsetzung der Einnahme sinnvoll ist – oder ob Alternativen infrage kommen. Für Levonorgestrel, das in vielen Kombi-Pillen enthalten ist, besteht laut Studie kein Anlass zur Sorge – unabhängig von der Einnahmedauer.
Einordnung der Studie und mögliche Einschränkungen
Die Studie ist wissenschaftlich fundiert, groß angelegt und basiert auf realen Gesundheitsdaten. Das macht sie besonders aussagekräftig. Dennoch gibt es einige Einschränkungen:
- Erfasst wurden nur Frauen mit operierten Meningeomen – kleinere, nicht behandelte Tumoren blieben unberücksichtigt.
- Die Gründe für die Einnahme (z. B. Verhütung oder Endometriose) wurden nicht dokumentiert.
- Kombinationspräparate mit Desogestrel wurden nicht berücksichtigt, da sie in Frankreich selten verschrieben werden.
- Es ist möglich, dass einige Frauen die verschriebene Pille nicht regelmäßig eingenommen haben – was das Risiko tendenziell eher unterschätzt.
Trotz dieser Einschränkungen sind die Ergebnisse klar: Nur Desogestrel zeigte bei sehr langer Anwendung ein erhöhtes Risiko. Levonorgestrel hingegen bleibt aus heutiger Sicht unbedenklich – ein wichtiges Signal für viele Frauen.
Erhöhtes Risiko auch bei Depo-Spritze – Sammelklage gegen Pfizer in den USA
Während sich die neue Studie auf Desogestrel bezieht, sorgt ein anderes hormonelles Verhütungsmittel international für juristische Schlagzeilen: die Verhütungsspritze Depo-Provera mit dem Wirkstoff Medroxyprogesteronacetat. Eine frühere BMJ-Studie hatte gezeigt, dass Frauen bei mehrjähriger Anwendung ein mehr als fünffach erhöhtes Risiko für Meningeome aufwiesen.3
In den USA läuft derzeit eine Sammelklage gegen den Pharmakonzern Pfizer, weil auf der US-Packungsbeilage der Spritze kein entsprechender Warnhinweis aufgeführt sei – anders als etwa in der EU. Der Vorwurf: Der Konzern habe Patientinnen nicht ausreichend über das Risiko informiert. Insgesamt sind rund 400 Einzelklagen Teil der Klagewelle. Eine Anhörung ist für Ende Mai geplant. Der Fall zeigt exemplarisch, wie wichtig transparente Risikohinweise bei hormonellen Verhütungsmitteln sind – nicht nur medizinisch, sondern auch juristisch.4

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Fazit
Besonders Frauen ab 45 Jahren, die Desogestrel über viele Jahre hinweg eingenommen haben bzw. einnehmen, haben ein ausgeprägtes Risiko, an einem gutartigen Hirntumor zu erkranken. Das liegt aber nicht nur am Wirkstoff, sondern auch am natürlich steigenden Grundrisiko für Meningeome im Alter. Die Mini-Pille ist für die meisten Frauen weiterhin eine sichere und wirksame Verhütungsmethode, doch eine regelmäßige Nutzen-Risiko-Abwägung wird bei Langzeitanwendung wichtiger. Kombinationspräparate mit Levonorgestrel bleiben laut Studie unauffällig. Wichtig ist: Die individuelle Situation zählt – und eine offene Beratung mit Ärzten.