Wer Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis hat, muss nicht automatisch im Rollstuhl sitzen oder etwa geistig beeinträchtigt sein. Auch eine chronische Nasennebenhöhlenentzündung oder Akne kann als Behinderung eingestuft werden. Wichtig: Betroffenen stehen Nachteilsausgleiche zu.
In Deutschland leben laut Statistischem Bundesamt 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen. Das entspricht 9,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, also fast jeder Zehnte ist betroffen. In Wirklichkeit dürften es noch deutlich mehr sein, da viele Menschen schwerbehindert sind, ohne es zu wissen. Warum? Weil vielen nicht bekannt ist, dass auch chronische Krankheiten wie Tinnitus oder Rheuma unter bestimmten Voraussetzungen eine Schwerbehinderung darstellen und sie somit Anrecht auf einen Schwerbehindertenausweis hätten. Damit entgehen den Betroffenen Vergünstigungen und Nachteilsausgleiche.
Übersicht
Ab wann gilt man als schwerbehindert?
Ab wann mal als schwerbehindert gilt, ist im Sozialrecht definiert. Eine Behinderung liegt vor, wenn jemand eine oder mehrere Beeinträchtigungen hat, die länger als sechs Monate anhalten. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben muss beeinträchtigt sein. Der Grad der Behinderung (GdB) beziehungsweise den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) drückt die Schwere aus. Sie erfolgt in Zehnerschritten von 20 bis 100. Als schwerbehindert gilt man, wenn der Grad der Behinderung 50 oder mehr beträgt.
Eine schwere Verlaufsform von Migräne kann einen GdB von 50 bis 60 begründen. Auch Menschen mit stark ausgeprägter Akne haben mitunter einen GdB von 50. Im Prinzip kann jede Krankheit – ob nun körperlicher oder psychischer Art – einen GdB begründen. Eine Krebserkrankung beispielsweise begründet ebenfalls einen GdS von mindestens 50. Eine Übersicht gibt die Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV).
Schwerbehinderte Menschen in Deutschland nach Ursache und Grad der Behinderung
Den größten Anteil an schwerbehinderten Menschen, genau: 2,63 Millionen, machen jene aus, die einen Grad von 50 Prozent aufweisen, wie Daten des Statistischen Bundesamts zeigen. Einen 100-prozentigen Grad der Behinderung haben 1,84 Millionen Menschen. Sie stellen die zweitgrößte Gruppe dar.
Gesamt | GdB 50% | GdB 60% | GdB 70% | GdB 80% | GdB 90% | GdB 100% | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Angeborene Behinderung | 257.541 | 34.120 | 16.758 | 17.541 | 36.324 | 8823 | 143.975 |
Arbeitsunfall (einschl. Wege- und Betriebsunfall), Berufskrankheit | 55.774 | 21.794 | 10.713 | 6940 | 5463 | 2490 | 8374 |
Verkehrsunfall | 30.031 | 8655 | 4554 | 3662 | 3755 | 1490 | 7915 |
Häuslicher Unfall | 5785 | 2168 | 916 | 585 | 540 | 215 | 1361 |
Sonstiger oder nicht näher bezeichneter Unfall | 20.315 | 7127 | 3152 | 2273 | 2071 | 887 | 4805 |
Anerkannte Kriegs-, Wehrdienst- oder Zivildienstbeschädigung | 13.192 | 3517 | 2057 | 1680 | 1612 | 961 | 3365 |
Allgemeine Krankheit (einschl. Impfschaden) | 7.062.264 | 2.388.977 | 1.101.041 | 772.185 | 862.076 | 359.839 | 1.578.146 |
Sonstige, mehrere oder ungenügend bezeichnete Ursachen | 458.058 | 165.881 | 77.846 | 53.456 | 50.378 | 21.973 | 88.524 |
Insgesamt | 7.902.960 | 2.632.239 | 1.217.037 | 858.322 | 962.219 | 396.678 | 1.836.465 |
Was die Ursache der Behinderung angeht, so handelt es sich bei 89,36 Prozent um allgemeine Krankheiten, gefolgt von „sonstigen, mehreren oder ungenügend bezeichneten Ursachen“ mit 5,8 Prozent und angeborenen Behinderungen mit 3,26 Prozent.
Der Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis
Wer eine Schwerbehinderung feststellen lassen möchte, muss einen Antrag beim Versorgungsamt seiner Gemeinde stellen. Dafür reicht ein formloses Schreiben.
Daraufhin bekommt der Antragsteller ein Formular zugeschickt, das ausgefüllt werden muss. Wichtig ist hierbei, dass der Antragsteller seine persönliche Betroffenheit deutlich macht. Er muss genau beschreiben, inwiefern die Krankheit den eigenen Alltag beeinträchtigt.
Um die Bearbeitungszeiten zu verkürzen, sollten alle ärztlichen Unterlagen, die sich auf die Gesundheitsstörung beziehen, dem Antrag beigefügt werden. Das Amt prüft den Antrag und stellt fest, ob eine Behinderung vorliegt und welchen Grad sie hat. Liegt der GdB beziehungsweise GdS bei mindestens 50, wird ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt. Mit diesem Ausweis besteht der Anspruch auf Nachteilsausgleiche und Vergünstigungen.
Welche Vorteile bietet ein Schwerbehindertenausweis?
An dieser Stelle wichtig zu erwähnen ist, dass die hier als Vorteile bezeichneten Ansprüche eher als Nachteilsausgleich zu betrachten sind.
Menschen mit Behinderung können einen Steuerfreibetrag geltend machen. Zudem können Menschen mit Schwerbehinderung mit 62 Jahren in Rente gehen – vorausgesetzt, sie haben mindestens 35 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt.
Arbeitnehmer sind übrigens nicht verpflichtet, dem Arbeitgeber von ihrer Schwerbehinderung zu erzählen. Viele verschweigen es, weil sie befürchten, berufliche Nachteile zu haben. Dabei ist in der Regel das Gegenteil der Fall. Der Arbeitgeber muss per Gesetz Schwerbehinderte fördern. Ihnen stehen etwa fünf Tage bezahlter zusätzlicher Urlaub im Jahr sowie das Recht zu, Überstunden zu verweigern. Zudem können Schwerbehinderte nicht so ohne Weiteres gekündigt werden und haben, je nach Art der Behinderung haben sie auch Anspruch auf entsprechende Hilfsmittel am Arbeitsplatz.
Auch außerhalb des Berufslebens gibt es einige Vergünstigungen. So können etwa mobilitätsbehinderte Menschen günstiger oder mitunter auch kostenlos mit Bus und Bahn fahren. Bei Kultur- und Freizeitveranstaltungen gibt es oft Preisnachlässe, wenn man einen Schwerbehindertenausweis vorlegt. Auch Mitgliedsbeiträge in Vereinen sowie Kurtaxen sind mitunter vergünstigt.
Weitere Vorteile im Überblick:
- Vortritt bei Besucherverkehr in Behörden
- Vorzeitige Rente
- Bevorzugung bei Einstellung
- Ermäßigung/Befreiung bei der Rundfunkgebühr (GEZ)
Wie lange ist ein Schwerbehindertenausweis gültig?
Der Ausweis muss in aller Regel nach einigen Jahren neu ausgestellt werden. Das gilt laut einem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg auch dann, wenn der GdB unbefristet festgestellt wurde (Az.: L 8 SB 2527/21). Auf diese Entscheidung weist das Rechtsportal „anwaltauskunft.de“ hin. Hintergrund der Befristung ist laut Gericht, dass so künftige Veränderungen des Gesundheitszustandes berücksichtigt werden können.
Geklagt hatte eine Frau, die unter anderem an funktionellen Organbeschwerden, einem Herzklappenfehler, einer Depression und Bronchialasthma erkrankt war. Bei ihr war zunächst ein GdB von 30 festgestellt worden – zu wenig für die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises. Gegen diese Entscheidung zog sie vor Gericht. In einem Vergleich einigten sich die Beteiligten darauf, dass bei der Klägerin seit Sommer 2020 ein GdB von 60 vorläge. Der daraufhin ausgestellte Schwerbehindertenausweis wurde bis Januar 2026 befristet.

Klage gegen die Befristung blieb erfolglos
Dagegen klagte die Frau. Sie vertrat die Position, dass dem gerichtlichen Vergleich keine Befristung zu entnehmen sei. Zudem sei für sie Voraussetzung für den Vergleichsschluss gewesen, dass sie den GdB von 60 und somit auch den Schwerbehindertenausweis unbefristet erhalte, begründete die Frau. Ihre Klage vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg blieb erfolglos. Das Gericht betonte, ein behinderter Mensch habe keinen Anspruch auf einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis als Folge eines unbefristeten Grades des Behinderung.
Mit Material von dpa