
17. Juli 2025, 3:56 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Auf Social Media teilen „Momfluencer“ aktuell Inhalte rund um „Kolostrum ausstreichen“ – also das Gewinnen der Vormilch aus der Brust, noch bevor der Nachwuchs auf der Welt ist. Dabei versprechen sie allerhand gesundheitliche Vorteile wie einen „Immunboost“ für das Kind. FITBOOK-Redakteurin Sophie Brünke hat sich gefragt, ob das wirklich immer sinnvoll ist und ob werdende Mütter, bei denen das Ausstreichen nicht funktioniert, sich sorgen müssen. Hierzu hat sie mit Gynäkologin, Reproduktionsmedizinerin und Psychotherapeutin Dr. med. Heidi Gößlinghoff gesprochen.
Übersicht
Wie unterscheidet sich Kolostrum von Muttermilch?
„Kolostrum ist die Vormilch, die vor der eigentlichen Milchbildung in den ersten 24 bis 72 Stunden nach der Entbindung produziert wird“, erklärt Dr. Gößlinghoff. „Ihr Hauptvorteil liegt in ihrer hochkonzentrierten Beschaffenheit in Bezug auf Proteine und Immunmodulatoren.“ Sie ist sehr proteinreich und liefert dafür wenig Kohlenhydrate und Fett. Weitere Besonderheiten seien der hohe Anteil an Immunglobulinen, insbesondere Immunglobulin A (IgA), sowie Wachstumsfaktoren und Antioxidantien.
Die Zusammensetzung des Kolostrums ist darauf ausgerichtet, den Aufbau des unreifen Immunsystems des Neugeborenen zu unterstützen. Im Vergleich zur Muttermilch ist das Kolostrum goldgelb (wegen der hohen Beta-Carotin-Konzentration) und dickflüssiger. Denn aufgrund des kleinen Magens eines Neugeborenen muss das Kolostrum in der kleinen Menge eine hohe Nährstoffdichte aufweisen. Am ersten Tag ist der Magen etwa so groß wie eine Kirsche (sieben Milliliter), am dritten hat er die Größe einer Walnuss erreicht (27 Milliliter).1
Im Laufe der Stillphase wandelt sich die Muttermilch. „In der Übergangsmilch sinkt der Protein- und Immunanteil, dafür wird mehr Energie geliefert. Aber auch hier ist der Proteinanteil noch sehr hoch“, weiß Dr. Gößlinghoff. „Bei der reifen Muttermilch steht die Ernährung des Kindes im Vordergrund, hier finden sich mehr Fette, Laktose und Kalorien. Auch hier gibt es Immunglobuline, aber deutlich weniger als im Kolostrum. Außerdem kann sich die Muttermilch an den Bedarf des Kindes anpassen, sowohl in der Menge als auch in der Nährstoffdichte.“
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Gynäkologin erklärt, wann das Ausstreichen sinnvoll ist
Bereits während der Schwangerschaft bildet sich in der Brust Kolostrum. In manchen Fällen bietet es sich an, die Vormilch noch vor der Entbindung als Sicherheitsreserve für die erste Zeit nach der Geburt zu gewinnen. Sucht man auf Social Media danach, entsteht schnell der Eindruck, diese Prozedur gehöre zu einer normalen Geburtsvorbereitung dazu. Doch Dr. Gößlinghoff unterscheidet klar Indikationen und Kontraindikationen.
Sinnvoll kann das Ausstreichen sein bei:
- Schwangerschaftsdiabetes
- Diabetes Typ 1 und 2
- Makrosomen Kindern (erhöhtes Geburtsgewicht; hohes Unterzuckerungsrisiko nach der Geburt)
- geplanter Sektion oder Einleitung, weshalb die Mutter das Kind nicht sofort versorgen kann
- Zwillingsschwangerschaften
- Trennung nach der Geburt (z. B. Frühchen oder stationäre Aufnahme des Kindes)
- Frauen mit PCOS oder Brustoperationen (möglicherweise Schwierigkeiten beim Stillen)
- Frauen, die stillen möchten, aber Angst haben, dass sie keine Milch produzieren
- in der Schwangerschaft bereits diagnostizierter Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, Herzerkrankung, neurologischer Erkrankung oder vermindertem Wachstum2
„Es gibt aber auch Situationen, in denen eine Kolostrumgewinnung nicht empfohlen wird“, stellt Dr. Gößlinghoff klar. Das sei etwa beim Risiko einer Frühgeburt der Fall, da eine Manipulation der Brust Wehen auslösen könne. „Das Gleiche gilt für eine Zervixinsuffizienz (Erweiterung des Gebärmutterhalses, A. d. R.), bereits vorhandenen vorzeitigen Wehen oder drohender Frühgeburt. Aber auch eine Plazenta praevia (Mutterkuchen liegt sehr tief) oder Blutung in der Schwangerschaft sind eine Kontraindikation, da es hier zu Wehen kommen kann.“
Wie das Ausstreichen funktioniert und das Kolostrum aufbewahrt wird
„Bereits ab der 36. Schwangerschaftswoche kann Kolostrum gewonnen werden und ist in den Milchgängen vorhanden, ausgeschüttet wird es erst nach der Geburt“, erklärt die Gynäkologin. „Aber durch sanfte manuelle Brustmassagen kann man es vorher ausstreichen. Das sind jedoch pro Sitzung nur ein bis zwei Milliliter.“ Gößlinghoff empfiehlt zwei bis drei Sitzungen pro Tag, bis man auf eine Menge von fünf bis 20 Milliliter kommt.
Dieses Kolostrum kann dann zu Hause eingefroren und mit einer Kühltasche ins Krankenhaus genommen werden. Wichtig: Bis zum Einsatz muss es tiefgefroren bleiben! „Von dem gewonnenen Kolostrum bekommt das Neugeborene in den ersten Stunden wenige Tropfen in die Wange geträufelt.“

Doch wie sieht eine solche „Ausstreich-Sitzung“ im Detail aus? Eine Sitzung nimmt etwa zehn bis 20 Minuten in Anspruch. Zum Auffangen der Vormilch legen Sie sich sterile Spritzen mit einem Fassungsvermögen von ein bis fünf Millilitern bereit. Dann waschen Sie sich die Hände und beginnen anschließend mit einer Brustmassage, um den Milchfluss anzuregen. Anschließend positionieren Sie Daumen und Zeigefinger etwa zwei bis drei Zentimeter hinter der Brustwarze, heben die Brust leicht an und drücken diese sanft in Richtung Brustkorb. Mit einer Rollbewegung der Finger nach vorn – ähnlich wie beim Melken, jedoch ohne über die Haut zu reiben – wird das Kolostrum aus der Brust gelöst. Die austretenden Tropfen können Sie mit einer Spritze auffangen und verschließen diese. Abschließend beschriften Sie die Spritze und frieren sie ein.
Am besten lassen Sie sich die Technik vor der ersten Sitzung von einer Hebamme oder einem Stillberater zeigen. Die Stillberatung Schweiz stellt werdenden Müttern etwa auch ein Handout bereit.
Kolostrum ist auch zur äußeren Anwendung geeignet
Auf Social Media kursiert der Tipp, Kolostrum auf Wunden aufzutragen oder es sogar als Badezusatz bei Ausschlag des Neugeborenen zu verwenden. Und auch hier scheint etwas dran zu sein: „Die Zellproliferation wird gefördert und die Entzündung gehemmt“, so Dr. Gößlinghoff. Sie ergänzt, dass auch offene Beine, wundgelegene Stellen (Dekubitus) und Strahlenschäden Anwendungsmöglichkeiten sind. „Allerdings ist die Studienlage eher gering.“

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Anbieter von Kolostrumspritzen loben die Vormilch mitunter als „flüssiges Gold für Ihr Kind“, bei dem „jeder Tropfen zählt“. Das kann bei Müttern Druck erzeugen und sie verunsichern. Doch die Gynäkologin betont: „Die Kolostrumgewinnung ist ja nur für Notfallsituationen gedacht.“ Zudem gibt es auch andere Möglichkeiten. Besteht etwa die Gefahr der Unterzuckerung, stellen Kliniken auch Zuckerlösungen bereit, wenn kein Kolostrum gesammelt wurde oder werden konnte.
Wenn Sie überlegen, Ihre Vormilch auszustreichen, besprechen Sie dies zuvor unbedingt mit Ihrem Arzt. Denn nicht in jedem Fall ist dieses Vorgehen sinnvoll, es kann sogar kontraproduktiv sein, etwa, weil es frühzeitige Wehen triggert. Für Dr. Gößlinghoff ist klar: Eine breite Anwendung brauche es nicht.