
14. Mai 2025, 11:12 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Wenn ich die Augen schließe, kann ich ihn noch schmecken: Tortellini, Gemüse, ein leichtes Joghurtdressing – der legendäre Salat aus dem Weight Watchers Kochbuch meiner Mutter. Es war ihr absoluter Lieblingssalat. Und meiner auch. Nur wusste ich damals bislang nicht, dass das, was da so lecker vor sich hinmarinierte, Teil eines gigantischen Ernährungskonzepts war. Ich dachte, wir wären einfach kulinarisch besonders fortschrittlich.
Denn meine Mutter – sagen wir’s wie’s ist – war Hardcore-Fan. Keine WW-Innovation war vor ihr sicher: vom Punkterechner über die Taschenwaage bis hin zur Sammelleidenschaft für jede einzelne Rezeptbroschüre. Unsere Küche war ein Museum für kalorienbewusstes Essen. Ich glaube, ich könnte Ihnen heute noch auswendig sagen, wie viele Punkte ein Brötchen mit der hippen „Du darfst“-Margarine und Marmelade hatte. Und wie viele man durch Treppensteigen wieder reinholen konnte. Trotz allem ist Weight Watchers nun pleite. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Übersicht
Kein Diätplan, sondern ein Lifestyle
Weight Watchers war bei uns zu Hause kein „Ich muss abnehmen“-Projekt, sondern so etwas wie ein Lebensstil mit integriertem Rechenschieber. Während andere Kinder Cola-Light mit Chips in sich reinschaufelten, mixte ich Joghurt-Dips und las Zutatenlisten, als hinge mein Leben davon ab. Und ganz ehrlich? Ich habe es gemocht. Da war nichts Verbotenes oder Unangenehmes – höchstens mal ein süßlicher Tomatenketchup, der plötzlich als „Punktefalle“ entlarvt wurde.
Die größte Rebellion meiner Kindheit bestand darin, heimlich Nutella zu löffeln – weil ich wusste, dass allein ein Teelöffel bereits den halben Tagesbedarf an Punkten fraß. Und das WW-System war clever: Es zeigte, wo sich die Kalorien gut versteckten und wie man sie überlisten konnte. Quasi: „Wie trickse ich meinen Snackhunger mit Gemüse aus, ohne mich selbst zu hassen?“
Später – fast wie vom Schicksal orchestriert – landete ich tatsächlich in einer PR-Agentur, die ausgerechnet Weight Watchers beim deutschen Relaunch betreute. Da saß ich nun, am anderen Ende des Tisches, zwischen Presse-Kits und Produkt-Samples, mit einem Gefühl von: „Ach hallo, alter Freund.“ Ich durfte mich durch neue Snacks probieren und dachte insgeheim: Vielleicht ist WW gar keine Marke. Vielleicht ist WW ein Lebensabschnitt.
Die Insolvenz von Weight Watchers: ein Stich ins Herz!
Wenn jetzt also die Schlagzeilen „die Insolvenz von Weight Watchers“ verkünden, dann geht das nicht spurlos an mir vorbei. Es fühlt sich an wie das Ende eines Kapitels. Ja, die Programme sollen weiterlaufen. Ja, alles ist angeblich nur eine „finanzielle Reorganisation“. Aber wenn man sich die Entwicklung ansieht – Oprah Winfrey raus, die Aktie auf Pennystock-Niveau, fast zwei Milliarden Dollar Schulden – dann sieht das nicht nach großen Comeback-Potenzial aus. Aber wer steckte eigentlich ursprünglich hinter dem Unternehmen? Ein kleiner, nostalgischer Exkurs.

Jean Nidetch – eine Hausfrau, die Millionen in Bewegung brachte
Bevor es überhaupt Ernährungsapps gab, saß eine Frau namens Jean Nidetch in ihrer New Yorker Küche – und brachte die Welt dazu, über Ernährung neu nachzudenken. 1963 gründete sie Weight Watchers. Auslöser war ein simples Bedürfnis: Sie wollte abnehmen, aber nicht mehr allein. Also lud sie ein paar Freundinnen ein, um gemeinsam über Diätfrust, Rückfälle und kleine Siege zu sprechen. Aus diesen Wohnzimmer-Sitzungen wurde eine globale Bewegung. Nidetch war keine ausgebildete Ernährungsberaterin, keine Ärztin, keine Prominente – sondern einfach eine Frau mit einem Ziel und einem großen Bedürfnis nach Gemeinschaft.
Sie war der lebende Beweis dafür, dass sich Veränderung nicht nur in der Küche, sondern vor allem im Kopf abspielt. Und sie gab Millionen Frauen – und später auch Männern – das Gefühl, nicht allein zu sein mit ihrem Kampf gegen die Kilos. Dass ihre Vision nun in einer Welt von Proteinshakes und „Abnehmspritzen“ unterzugehen scheint, fühlt sich an wie das Ende einer Ära. Aber vielleicht ist es auch nur der Anfang einer neuen.
Zwischen Tortellinisalat und Tech-Konzern – wo ist der Zauber geblieben?
WW hat in den vergangenen Jahren viel versucht: Namenswechsel, Rebranding der Fertigprodukte, neue Apps, Gruppentreffen mit Feelgood-Vibes statt Schamgefühl – doch der Diätmarkt hat sich radikal verändert. Heute regieren Fitness-Influencer, Kalorien werden per Smartwatch gezählt, Muskeln sind sexy, Diätspritzen wie Ozempic und Wegovy versprechen den mühelosen Traumkörper im Wochenrhythmus. Was soll da noch ein Punktesystem, das Ende der 90er eingeführt wurde, ausrichten?
Auch Oprah, einst das Testimonial schlechthin, hat sich inzwischen öffentlich zur Einnahme eines GLP-1-Rezeptor-Agonistens (wo u. a. Ozempic dazugehört) bekannt – der letzte Dolchstoß für das Traditionsunternehmen. Und während andere von der Abnehmspritze träumen, versuchte WW zuletzt noch, auf den Medikamenten-Zug aufzuspringen. Statt „Diätprogramm“ heißt es nun: „menschenzentrierter Technologiekonzern“. Klingt fast wie: „Wir würden gerne mitreden, wissen aber selbst nicht mehr, wie.“

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Alte Ideale, neue Realität
Natürlich war nicht alles perfekt. Die Gruppentreffen mit Wiegepflicht? Heute undenkbar. Das Mantra vom „guten“ und „bösen“ Essen? Komplex und nicht immer hilfreich. Aber Weight Watchers hat vielen Menschen – wie meiner Mutter – gezeigt, wie man sich mit Essen auseinandersetzt, ohne sich gleich zu kasteien. Es war nie „No Carb, No Fun“, sondern eher: „Gönn dir – aber clever.“ Und der Fertig-Schokopudding von Weight Watchers war mega!
Heute sprechen wir von intuitivem Essen, von Selbstakzeptanz und vom Essen als emotionalem Kompass. Das ist richtig, wichtig – und gut so. Und trotzdem: Wenn ich das nächste Mal einen Schuss Ketchup nehme, werde ich vermutlich noch immer denken: „Zwei Punkte.“

Für mich bleibt Weight Watchers ein Stück Zuhause
„Trotz allem: Ich werde die alten Weight-Watchers-Kochbücher nach der Insolvenz nicht wegwerfen. Nicht, weil ich denke, dass sie die letzte Rettung sind. Sondern weil sie mich an etwas erinnern, das wichtiger ist als jede Trend-Diät: an eine Zeit, in der sich Veränderung nicht nach Verzicht anfühlte. An gemeinsame Mittagessen mit meiner Mutter. An ein System, das nicht zwang, sondern lehrte.
Vielleicht ist Weight Watchers nicht mehr zeitgemäß. Vielleicht ist es zu freundlich, zu altmodisch, zu bemüht positiv. Aber genau das hat es für mich immer sympathisch gemacht. Und wenn ich das nächste Mal den Tortellinisalat mache, werde ich ihn nicht nur wegen des Geschmacks genießen – sondern auch ein wenig für WW. Danke für die Punkte. Danke für die Erinnerungen.“