
17. April 2025, 13:01 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Es ist eine seltsame Vorstellung, dass ein Medikament, welches beim Abnehmen unterstützen soll, Einfluss darauf hat, auf welche Lebensmittel wir Appetit haben. Doch genau das hat eine Studie herausgefunden: Menschen, die sogenannte GLP-1-Medikamente wie Ozempic einnehmen, essen nicht nur deutlich weniger – sie greifen auch zu anderen Lebensmitteln als zuvor.
Die rasant steigende Verbreitung von GLP-1-Agonisten wie Semaglutid oder Liraglutid (die Wirkstoffe in Ozempic und Wegovy) wirft eine zentrale Frage auf: Wie verändern diese Medikamente das tägliche Essverhalten der Nutzer? Eine aktuelle Studie der amerikanischen University of Delaware und Purdue University liefert Antworten. In einer groß angelegten Verbraucherbefragung untersuchten die Wissenschaftler den Einfluss von GLP-1 auf Lebensmittelpräferenzen und die Kalorienaufnahme.1
Übersicht
Was und warum wurde untersucht?
GLP-1-Agonisten – Medikamente zur Behandlung von Typ-2-Diabetes und Übergewicht – werden in den USA mittlerweile vielfach verordnet. Schätzungen zufolge begannen im Jahr 2024 jede Woche Zehntausende US-Amerikaner damit, die „Abnehmspritze“ zu nutzen. Die Medikamente verringern den Appetit, verlangsamen die Magenentleerung und steigern das Sättigungsgefühl. Doch über ihre Wirkung fernab der reinen Kalorienmenge war bisher wenig bekannt. Ziel der vorliegenden Studie war daher, den Einfluss von Ozempic und Co. auf die Kalorienaufnahme und das Essverhalten – insbesondere die Auswahl von Lebensmitteln – zu untersuchen. Dazu wurden vier unterschiedliche Gruppen von Verbrauchern befragt: darunter Nutzer von GLP-1 sowie solche ohne jegliches Interesse an der Anwendung. Die Forscher wollten herausfinden, wie sich der Konsum bestimmter Lebensmittelgruppen unterscheidet und ob die tägliche Kalorienmenge durch das Medikament beeinflusst wird.
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Forscher führten eine Verbraucherumfrage durch
Die Studie stützt sich auf eine Online-Befragung von 1955 US-amerikanischen Teilnehmern, die im Mai 2024 über die Plattform Prolific rekrutiert wurden. Anhand ihrer Antworten wurden sie gruppiert:
- Gruppe 1: aktuell GLP-1-Nutzende (495 Personen)
- Gruppe 2: ehemalige Nutzer (468 Personen)
- Gruppe 3: Personen mit geplanter Nutzung (492 Personen)
- Gruppe 4: Personen ohne bisherige oder geplante Nutzung (500 Personen)
Die Befragten machten Angaben zur Kalorienaufnahme und zur Attraktivität von Lebensmitteln auf einer 5-Punkte-Skala. Zusätzlich bewerteten sie die Veränderungen ihres Konsums in drei Produktkategorien:
- Proteine (z. B. Rindfleisch, pflanzliche Alternativen)
- Getränke (z. B. Limonaden, Wasser)
- Sonstiges (z. B. verarbeitete Lebensmittel, Getreidearten)
Für die Analyse der Unterschiede wurden unter anderem logistische Regressionsmodelle und Intervallregressionen eingesetzt – getrennt nach Geschlecht. Dadurch konnte die Studie nicht nur aktuelle Essgewohnheiten erfassen, sondern auch Veränderungen im Laufe der Zeit, etwa vor und während der Einnahme eines GLP-1-Medikaments, analysieren.
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Konsum mancher Lebensmittel ändert sich, die Lust auf sie jedoch nicht
Wenig überraschend ist, dass die GLP-1-Nutzer signifikant weniger Kalorien aßen. Frauen sparten während der Anwendung des Medikaments im Schnitt um 864 bis 987 Kalorien pro Tag, Männer 722 bis 798 Kalorien.
Wie Ozempic und Wegovy das Essverhalten modellieren
Besonders bemerkenswert war der Rückgang beim Konsum von verarbeiteten Lebensmitteln, gezuckerten Getränken, raffiniertem Getreide und Rindfleisch. Bei diesen Produkten übertraf der Anteil der „weniger Konsumierenden“ den der „mehr Konsumierenden“ um bis zu 50 Prozentpunkte. Auffällig war, dass sich diese Verhaltensänderungen vollzogen, obwohl die grundsätzliche „Lust“ auf viele dieser Lebensmittel laut der Bewertungsskalen kaum zurückging. Gleichzeitig stieg der Konsum von Obst, grünem Blattgemüse und Wasser.
Damit zeigt die Studie nicht nur einen Einfluss auf die Kalorienaufnahme auf, sondern auch eine systematische Veränderung der Nahrungsmittelwahl während der GLP-1-Anwendung.

Warum wir manche Lebensmittel lieben – und andere hassen
„Jeder Mensch hat ein anderes Lieblingsessen, präferiert diese oder jene Brotsorte und könnte bergeweise ein bestimmtes Obst essen, während ein anderes niemals im Einkaufskorb landen würde. Doch woran liegt es eigentlich, dass wir so individuelle Favoriten haben?
Grundlegende Vorlieben werden vererbt, die Lust auf Süßes und Fettiges zum Beispiel. Aber auch bei spezifischen Geschmäckern können unsere Gene eine Rolle spielen. Denken Sie nur einmal an Koriander. Ob dieser für Sie eine aromatische Note ins Essen bringt – oder einfach nur nach Seife schmeckt – kann an ihren Genen liegen. Aber auch kulturelle oder familiäre Essgewohnheiten sind nicht zu unterschätzen. Da passt das Sprichwort ,was der Bauer nicht kennt, isst er nicht‘ tatsächlich ganz gut. Selbst die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft kann spätere Vorlieben des Kindes prägen.
Auch interessant, wenn auch spezifisch: Personen, die sich aufgrund starker Adipositas einer Magenverkleinerung unterzogen haben, berichten anschließend häufig von neuen Vorlieben. Ich selbst habe während einer Hospitation in einem Adipositaszentrum Patienten berichten gehört, dass sie ihr Leben lang nie Fisch mochten, nach der OP aber auf einmal Appetit auf diesen bekamen. Die Forschung geht aktuell davon aus, dass nach einer solchen OP die Wahrnehmung von bestimmten Aromen und die Übertragung des Geschmacks ans Gehirn verschlechtert ist. Außerdem führt die geringere Menge an produzierter Magensäure dazu, dass manche Lebensmittel weniger verträglich sind.“
Bedeutung der Ergebnisse für Nutzer und Industrie
Nutzer der „Abnehmspritze“ können sich durch die Studienergebnisse in der Wirkung des Medikaments bestätigt fühlen: Es hilft deutlich bei der Kalorienreduktion. Dass bisher ungeklärt ist, warum und auf welche Weise es die Lebensmittelauswahl beeinflusst, könnte jedoch auch Skepsis führen. Immerhin deutet diese Diskrepanz zwischen Verlangen und tatsächlichem Konsum auf tief greifende physiologische Veränderungen durch GLP-1 hin.
Für die Lebensmittelbranche sind die Ergebnisse ein möglicher Wendepunkt. Wenn Millionen Menschen dauerhaft weniger von bestimmten Produkten kaufen, sind neue Strategien gefragt. Studienautor Brandon McFadden, Professor für Lebensmittelpolitikökonomie erläutert bereits vollzogene Wandel in einer Pressemitteilung: „Bei Herstellern abgepackter Lebensmittel sanken die Aktienkurse, während die der Pharmaunternehmen, die diese Medikamente herstellen, stiegen.“ Ein Beispiel für den Wandel, so McFadden: Kurz nachdem er seine Forschungsergebnisse einem internationalen Publikum präsentiert hatte, brachte ein großer Hersteller abgepackter Lebensmittel einen „Meal-in-One“-Riegel auf den Markt, der speziell für GLP-1-Anwender vermarktet wurde.2
Einordnung der Studie
Die Studie überzeugt durch ein klar strukturiertes Design und die Erhebung differenzierter Gruppen. Die Auswertung von Kalorienangaben und Produktpräferenzen basiert allerdings auf Selbstauskünften, was zu Ungenauigkeiten führen kann. Zudem differenzierte die Studie nicht zwischen verschiedenen GLP-1-Wirkstoffen (z. B. Semaglutid, Tirzepatid), obwohl deren Wirkprofile variieren. Eine weitere Einschränkung ist, dass sich die Ergebnisse auf US-amerikanische Verbraucher beziehen – kulturelle Unterschiede in Ernährung und Medikamentenzugang könnten die Übertragbarkeit einschränken. Dennoch ist die Studie angesichts ihrer Stichprobengröße und der kombinierten Analyse von Konsumverhalten und Präferenzen eine wertvolle Grundlage für weitere Forschung. Zukünftige Studien sollten objektive Messdaten, z. B. aus Ernährungstagebüchern oder Biomarkern, einbeziehen, um die Ergebnisse weiter zu validieren.

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Fazit
Die Studie liefert klare Belege dafür, dass GLP-1-Präparate wie Ozempic die Kalorienaufnahme stark senken und zugleich das Essverhalten messbar verändern. Während die Lust auf bestimmte Lebensmittel bestehen bleibt, sinkt deren tatsächlicher Konsum spürbar – vor allem bei verarbeiteten Produkten, zuckerhaltigen Getränken und Rindfleisch. Für die Forschung, Gesundheitsberatung und Lebensmittelindustrie ergeben sich daraus neue Perspektiven, aber auch Herausforderungen.