
10. Juli 2025, 4:01 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Viele schwören auf Dehnen als Allzweckmittel für Fitness, Gesundheit und Wohlbefinden. Doch renommierte Forscher weltweit sind sich einig: Stretching wirkt nicht immer wie erhofft. Wann sich das Dehnen tatsächlich lohnt und wann der Effekt überschätzt wird, verraten neue Empfehlungen.
Eine internationale Forschungsgruppe hat aktuelle wissenschaftliche Empfehlungen zum Thema Dehnen veröffentlicht. Die Empfehlungen zeigen, in welchen Situationen Stretching als effektiv gilt und in welchen Fällen andere Trainingsmethoden bevorzugt werden sollten. FITBOOK erläutert die wissenschaftlichen Hintergründe.
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Übersicht
Dehnen: Kein Allheilmittel für Gesundheit und Fitness
Stretching wird oft als Lösung für eine Vielzahl von Problemen angesehen, von Muskelkater über eine bessere Körperhaltung bis hin zur Unterstützung von Herz und Kreislauf. Doch Experten rücken von dieser Ansicht ab. „In einigen Bereichen wirkt Dehnen gut, in anderen ist es eher überbewertet“, erklärt Prof. Jan Wilke vom Lehrstuhl Neuromotorik und Bewegung der Universität Bayreuth.
Gleichzeitig hebt Wilke hervor: „Auch, wenn Dehnen nicht immer hält, was es verspricht, ist es eine leicht anwendbare, immer verfügbare und kostenlose Form des Trainings“ – vorausgesetzt, man weiß, wann und wie es sinnvoll ist.
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Wissenschaftliche Empfehlungen
Eine internationale Konsensstudie hat nun unter Leitung von Konstantin Warneke (Universität Jena) und Jan Wilke (Universität Frankfurt) fundierte Leitlinien für den praktischen Einsatz von Stretching bei gesunden Personen erarbeitet.
20 führende Experten aus 12 Ländern haben systematisch untersucht, wie sich Dehnen auf acht wichtige Themen auswirkt – z. B. Beweglichkeit, Kraft, Muskelwachstum, Verletzungsrisiko oder das Herz-Kreislauf-System. Das Ziel: Klare Empfehlungen für gesunde Menschen – und einheitliche Begriffe für verschiedene Dehnmethoden wie statisches, dynamisches oder PNF-Stretching.1
Wie wurde gearbeitet?
Die Studie folgte dem bewährten Delphi-Verfahren: Mehrere anonyme Befragungsrunden mit klaren Abstimmungskriterien (mindestens 80 Prozent Zustimmung). Grundlage waren systematische Übersichtsarbeiten zu jedem Thema. Die Empfehlungen richten sich ausschließlich an gesunde Erwachsene – Daten zu kranken oder verletzten Personen wurden bewusst ausgeklammert.
Die wichtigsten Ergebnisse
Beweglichkeitssteigerung
- Kurzfristig: Mindestens zwei Serien à 5 bis 30 Sekunden Dehnung pro Muskelgruppe, unabhängig von der Technik (statisch, dynamisch, propriozeptiv), steigern die Beweglichkeit.
- Langfristig: Mindestens fünf Minuten Stretching pro Woche und Muskelgruppe, aufgeteilt auf mehrere Einheiten (zum Beispiel fünfmal pro Woche je eine Minute), führen über mehrere Wochen zu einer nachhaltigen Verbesserung der Beweglichkeit.
Muskelfestigkeit
- Akut: Mindestens vier Minuten statisches Dehnen pro Muskelgruppe senkt die Muskelsteifigkeit kurzfristig.
Herz-Kreislauf-System
- Akut: Mindestens sieben Minuten statisches Stretching pro Einheit sind nötig, um akute Effekte auf das Herz-Kreislauf-System und die Gefäße zu erzielen.
- Langfristig: Mindestens 15 Minuten pro Einheit (mindestens fünfmal pro Woche, insgesamt mindestens 75 Minuten pro Woche) sind erforderlich, um langfristig positive Effekte zu erreichen.
Muskelwachstum und Kraft
- Möglich: Stretching kann vor allem bei untrainierten Personen Muskelwachstum und Kraft fördern, insbesondere mit mindestens 30 bis 60 Sekunden pro Serie und mindestens fünf Serien pro Muskelgruppe pro Woche.
Was Stretching nicht kann
Nicht empfohlen wird das Dehnen zur:
- Verletzungsprävention
- Beschleunigung der Regeneration
- Korrektur von Fehlhaltungen
Dehnen vor oder nach dem Training?
In der Konsens- und Empfehlungstabelle der wissenschaftlichen Auswertung werden Zeitpunkte und Ziele des Dehnens wie folgt bewertet:
Dehnen vor dem Training
- Statisches Dehnen unmittelbar vor dem Krafttraining kann die Maximalkraft und Schnellkraft kurzfristig leicht verringern, wenn lange gehalten (mehr als 60 Sekunden pro Muskelgruppe).
- Man kann kurze, moderate Dehneinheiten (unter 60 Sekunden pro Muskelgruppe) vor dem Training durchführen. Sie haben kaum einen negativen Einfluss und steigern kurzfristig die Beweglichkeit – zum Beispiel bei Sportarten mit großem Bewegungsumfang.
Dehnen nach dem Training
- Dehnen nach dem Training wird nicht zur Verletzungsprävention oder schnelleren Regeneration empfohlen, da die Evidenz keinen positiven Effekt zeigt.
- Es kann jedoch helfen, die Beweglichkeit aufrechtzuerhalten oder zu verbessern.
Grenzen des Dehnens: Wann andere Methoden überlegen sind
Die Empfehlungen richten sich ausschließlich an gesunde Erwachsene. Für klinische Populationen – etwa mit orthopädischen oder internistischen Erkrankungen – sind separate Studien nötig. Zudem sind einige Empfehlungen noch nicht durch viele hochwertige Studien abgesichert (z. B. zu kardiovaskulären Effekten oder Faszienanpassungen). Auch der „Expertenstatus“ wurde funktional (mind. fünf Publikationen im Fachgebiet) definiert – alternative Kriterien könnten zu anderer Panelzusammensetzung führen.
Ein zentrales Problem bleibt die Umsetzung in die Praxis: Viele Trainer, Therapeuten und Sportler kennen aktuelle Studienergebnisse nicht. Das Autorenteam fordert daher gezielte Kommunikationsstrategien – etwa über Fachverbände, Fortbildungen und digitale Kanäle.

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Fazit
Stretching wirkt – aber nur gezielt eingesetzt. Es verbessert zuverlässig die Beweglichkeit und kann Muskelsteifigkeit senken. Als Maßnahme zur Kraftsteigerung, zum Muskelaufbau, zur Regeneration oder Haltungsverbesserung ist es dagegen kaum wirksam. Auch zur allgemeinen Verletzungsprävention eignet es sich nicht. Die neuen Empfehlungen bieten klare, differenzierte Leitlinien für den sinnvollen Einsatz von Stretching – und helfen, Trainingszeit dort zu investieren, wo sie nachweislich etwas bewirkt. Wichtig bleibt: Stretching ist ein Werkzeug – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
*Mit Material von dpa