31. Mai 2025, 17:29 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten
Kein anderes Geräusch hat eine so durchdringende Wirkung. Weder das Dröhnen eines startenden Flugzeugs noch lautes Hundegebell. Wenn ein Baby schreit, sind wir alarmiert. Das hat die Natur so eingerichtet: Babyschreie haben ein ganz eigenes akustisches Muster, das uns sofort aufhorchen lässt. Denn Babys haben schlicht keine andere Möglichkeit, sich mitzuteilen. Doch was tun, wenn das Baby schreit? FITBOOK hat bei zwei Experten nachgefragt.
Der Umgang mit schreienden Babys ist emotional und körperlich belastend – aber auch erlernbar.1 Was Eltern hilft, warum Selbstfürsorge entscheidend ist, und wann es Zeit wird, sich Hilfe zu holen, erklären Prof. Dr. Eva Möhler, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum des Saarlandes, und Dr. med. Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ).
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Übersicht
Warum Babys schreien
Zunächst: Schreien ist für Babys ein ganz normaler Kommunikationsweg. Denn sprechen können sie noch nicht, um uns etwas mitzuteilen. Das betont auch der Kinderarzt Dr. Burkhard Rodeck: „Alle Babys schreien, wenn sie sich irgendwie unwohl fühlen, wenn sie irgendwas wollen oder wenn sie irgendetwas nicht wollen. Das heißt, Schreien beim Baby ist erstmal völlig normal und logisch. Es zeigt: Ich brauche etwas – jetzt.“
Das sagen Studien
Studien zufolge schreien Babys vor allem in den ersten drei Lebensmonaten sehr häufig, kräftig und lang.2 Und manchmal lässt sich das Problem auch schnell erkennen: Hunger, nasse Windel, Bauchweh, Fieber. Doch es gibt auch Situationen, in denen scheinbar alles okay ist – und das Baby schreit trotzdem. Vor allem abends setzt bei vielen Babys eine für die Eltern unerklärliche Unruhe ein, und das Kind beginnt zu schreien. Die Kinderpsychiaterin Prof. Eva Möhler weiß, das kann vor allem zwei Ursachen haben: „Die Kinder sind dann meistens entweder übermüdet oder überreizt. Wenn sie überreizt sind, muss man bedenken – die können nicht wie wir dann mal eine Runde um den Block gehen. Die haben nur die Möglichkeit zu schreien, um Anspannung wieder abzubauen“. Eltern deuten das abendliche Schreien dann möglicherweise als Ablehnung oder fürchten, dass sie etwas falsch gemacht hätten. „Aber das ist nicht so. Schreien bedeutet nicht, dass die Kinder ihre Eltern nicht mögen. Es ist einfach nur ihre Möglichkeit, sich abzureagieren, wenn sie Anspannung abbauen müssen“, erklärt Prof. Möhler.
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Auch mit den Kindern ist in Regel alles in Ordnung, selbst wenn die sogenannten „Wessel Kriterien“ erfüllt sind. „Das heißt drei Stunden am Tag schreien, drei Tage in der Woche und länger als drei Wochen“, erklärt Dr. Rodeck. „Dann würde man von einem Schreibaby sprechen.“ Noch ist nicht abschließend geklärt, warum manche Kinder „Schreibabys“ sind – Die Ursachen sind nicht vollständig geklärt – genetische Veranlagung, Temperament und neurobiologische Reife spielen eine Rolle. Studien haben außerdem gezeigt, dass es auf Seiten der Eltern Risikofaktoren gibt, wie eine hohe Stressbelastung oder Rauchen während der Schwangerschaft.3
Schreien ist keine Krankheit, sondern eine Regulationsschwierigkeit
Dr. Rodeck spricht aber nicht von einer Störung: „Schreibabys können mit dem, was auf sie einprasselt, nicht ganz adäquat umgehen und äußern sich dann mit diesem Schreien.“ Früher sei man davon ausgegangen, dass das Schreien durch Bauchschmerzen verursacht werde, doch das sei inzwischen überholt. Die Bauchschmerzen sind eher eine Folge des Schreiens: „Oft schlucken sie dabei viel Luft, bekommen einen gespannten Bauch und schreien dann erst recht. Aber es ist keine Störung, sondern eine Regulationsschwierigkeit“, erklärt Dr. Rodeck. Auch sind die meisten Schreibabys gesund und haben später nicht öfter Allergien oder Erkrankungen als andere Kinder, so die Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.4
Und Prof. Möhler gibt zu bedenken: „Man darf nicht vergessen, viel Schreien hatte früher auch einen evolutionären Vorteil: Wenn man viel geschrien hat, dann wurde man nicht vergessen, sondern man wurde wahrgenommen! Von daher ist das nicht nur negatives Zeichen, wenn Kinder viel schreien.“ Laut „Kinderärzte im Netz“ sind etwa 16 Prozent aller Babys bis drei Monate Schreibabys.5
Was man auf keinen Fall tun darf, wenn Babys schreien
Ein Kind, das scheinbar ohne Grund schreit, bedeutet vor allem für die Eltern: maximaler Stress. Doch so groß die Verzweiflung auch ist – es gibt Grenzen, die niemals überschritten werden dürfen: Schütteln ist lebensgefährlich! „Das führt dazu, dass das Gehirn vorne und hinten an die Schädelkalotte (= das knöcherne Dach des Schädels) anschlägt. Das kann Hirnblutungen und Hirnschwellungen auslösen, zu massiven Folgeschäden führen, sogar zum Tod“, warnt Prof. Möhler. Auch grobes Packen oder gar Schlagen sind tabu. Solches Verhalten sei vor allem Ausdruck der Erschöpfung und Hilflosigkeit auf Seiten der Eltern, weiß die Ärztin, aber „wenn ein Kind schreit, ist das kein Schuldvorwurf an die Eltern“. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) rät deshalb: Wer an die Grenze kommt, sollte das Kind in einem sicheren Bett ablegen, den Raum verlassen, tief durchatmen – und im Zweifel Unterstützung holen, beispielsweise beim Elterntelefon, einer psychologischen Beratungsstelle oder bei Elternschulen an Geburtskliniken.6
Erste Hilfe: Nähe und Sicherheit
Wenn das Baby zu Schreien beginnt, rät Prof. Möhler dazu, erst mal „die Basics“ zu überprüfen: „Hunger? Windel voll? Tut was am Popo weh?“ – das seien die häufigsten Ursachen. Doch wenn das Kind satt und sauber ist und trotzdem schreit? Dr. Rodeck rät: „Erst mal ist ganz wichtig, ruhig und gelassen zu bleiben. Wenn man selbst als aufgeregte Mama oder nervöser Papa um das Kind herumspringt, macht man alles nur noch schlimmer, weil das Kind das spürt.“ Und dann?
Noch bis vor wenigen Jahren galt in der Wissenschaft, langes, kräftiges Schreien würde vor allem von harmlosen Verdauungsproblemen kommen und sich auch ohne weiteres Zutun nach drei Monaten ohnehin von selbst geben. Liebevolle Zuwendung in dieser Schreiphase würde das Kind möglicherweise nur „verwöhnen“ und darin bestätigen, noch öfter zu schreien. Doch das ist inzwischen wissenschaftlich widerlegt. Tatsächlich lernen Babys durch so eine Behandlung schnell, dass sie machtlos sind, ignoriert werden und ihre Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit und Zuwendung nicht erfüllt werden: „Erlernte Hilflosigkeit“ wird das genannt.7
Es hat sich gezeigt: Wird ein schreiendes Baby gut umsorgt, ist das besser für die spätere emotionale Entwicklung.8 Tragen, wiegen, singen – all das kann helfen, das Kind zu beruhigen. Der Körperkontakt wirkt entspannend auf das vegetative Nervensystem des Babys. Stillen, auch außerhalb fester Mahlzeiten, kann helfen – ebenso wie das Saugen am Schnuller. Feinfühlige Reaktionen fördern das Urvertrauen und helfen Babys, sich emotional zu stabilisieren. Wichtig ist auch, die Umgebung zu beruhigen. „Ein Kind, das überreizt ist, sollte nicht noch weiter stimuliert werden“, sagt Möhler. Sie warnt vor der sogenannten Pseudo-Stabilität: Manche Babys beruhigen sich kurz bei neuen Reizen, schreien danach aber umso mehr.
Hilfreiche Strategien, wenn das Baby schreit
Laut Deutscher Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin gibt es verschiedene Möglichkeiten, um ein schreiendes Kind sanft wieder zu beruhigen:
- Eine Spazierfahrt im Kinderwagen, ein warmes Bad, sanftes Schaukeln in einer Wiege, eine entspannende Fuß- oder Bauchmassage
- Schnuller anbieten
- Fütterung anpassen, z. B. das Baby während des Trinkens häufiger aufstoßen lassen.
- Bei stillenden Müttern: Eine Ernährungsumstellung bringt in der Regel wenig. Möglicherweise hilft eine Nahrungsergänzung mit dem Probiotikum Lactobazillus reuteri – aber nur nach Rücksprache mit der Kinderärztin oder dem Kinderarzt.
- Bei Flaschenfütterung: Auch eine Umstellung der Nahrung kann helfen, auch da aber nur in Absprache mit der Kinderärztin oder dem Kinderarzt.
- Keine Medikamente verabreichen! Es gibt keine wirksamen Medikamente gegen heftiges Schreien – einige Mittel haben sogar potenziell schwere Nebenwirkungen.
- Für eine rauchfreie Umgebung sorgen – selbst gelegentliches Passivrauchen kann das Baby stark belasten.
- Dem Kind Ruhe und Geborgenheit vermitteln, z. B. durch ruhiges Ansprechen, Körperkontakt und eine reizreduzierte Umgebung (abgedunkelt, leise)
Prof. Möhler rät auch dazu, den Tagesablauf der Familie mal unter die Lupe zu nehmen, also Wach-, Schlafens- und Fütterungszeiten. „Man könnte prüfen, ob die Wachzeiten des Kindes vielleicht zu lang sind: Wenn man weiß, mein Kind schläft normalerweise nach drei Stunden wieder oder es macht gern mal ein Nickerchen, dann sollte man das auch respektieren. Denn ausgefallene Nickerchen bezahlt man meistens mit einem großen Schrei-Programm.“ Dazu immer wieder reizarme Zeiten einbauen, rät sie, wie Spaziergänge oder Entspannen in einem abgedunkelten Raum. Das helfe Kinder und Eltern, Ruhe zu bewahren, Vertrauen aufzubauen und Kräfte zu dosieren.
Wenn das Schreien zur Dauerbelastung wird
Ein schreiendes Baby verlangt Eltern viel ab. Aber für manche ist es eine besondere Herausforderung: „Wir sehen viele Eltern, für die ist Schreien etwas Problematisches, weil sie selbst Situationen erlebt haben, in denen viel geschrien wurde in ihrer eigenen Biografie. Und dann können sie das Schreien eines Kindes vielleicht auch ganz schlecht aushalten“, erklärt Prof. Möhler. Deshalb sei es sehr wichtig, dass Eltern auch den Draht zu sich selbst nicht abreißen lassen. „Sie sollten sich immer fragen: ‚Wie geht es mir gerade?‘“. Sie vergleicht die Situation mit einem Notfall im Flugzeug: „Da setzen Sie auch erst mal sich selbst die Sauerstoffmaske auf, dann helfen Sie anderen. Ein gestresster, innerlich aufgewühlter Mensch kann kein überreiztes Kind beruhigen“.
Eltern unter Druck: Wenn das Schreien zur Belastung wird
Durch den Schrei-Stress geraten viele Mütter und Väter außerdem in einen Teufelskreis aus Selbstzweifeln, Schlafmangel und Überforderung, weiß Dr. Rodeck. Dann kann die Situation brenzlig werden: „Wenn ich das Gefühl habe, ich könnte das Baby in die Waschmaschine stecken – dann ist es Zeit, aus dem Raum zu gehen“. Dazu rät auch Prof. Möhler: „Es ist völlig okay, mal kurz das Zimmer zu verlassen, durchzuatmen und sich selbst etwas Gutes zu tun, und erst dann wieder zum Kind zu gehen.“ Das Kind brauche eventuell nur ein paar Momente, sich abzureagieren. „Diese Umdeutung der Situation, dass das Kind einem keinen Vorwurf macht, dass von dem Kind keine Aggression ausgeht, das ist ganz wichtig, um damit besser umgehen zu können.“
Das hilft auch dabei, die Situation insgesamt zu beruhigen, ergänzt Dr. Rodeck, denn zu viele Hilfsstrategien auf einmal können vom Kind auch als aufdringlich empfunden werden: „Also nicht hinrennen und hochnehmen, rumtragen, dann dies und jenes, und alles nur drei Sekunden lang, und wenn das Kind immer noch schreit, das nächste – sondern ganz ruhig hingehen, kommunizieren, ansprechen, anschauen, anfassen, so dass das Kind spürt, es ist einer sicheren Umgebung. Und wenn das Kind damit nicht klarkommt, dann auch mal wieder weggehen vom Kind.“ Deswegen sei es auch wichtig, dass sich beide Elternteile abwechseln und unterstützen, um die Situation gut meistern zu können.

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Beratungsangebote und Schreiambulanzen
Wenn der Stress zu groß wird: Es gibt Selbsthilfegruppen, in denen sich betroffene Eltern austauschen, und auch sogenannte „Schreiambulanzen“. „Dort wird die Situation analysiert und es erfolgt eine individuelle Beratung, wie damit umgegangen werden kann.“, erklärt Dr. Rodeck. In den meisten Fällen ist das Kind allerdings völlig gesund – und es geht in erster Linie darum, Eltern aufzuklären, zu beruhigen und Sicherheit im Umgang mit ihrem Kind zu geben. Das seien kleine „verhaltenstherapeutische Maßnahmen, das kann sehr effektiv sein“, betont er. Die Adressen der örtlichen Schreiambulanzen sind auf den Internetseiten der Initiative „Nationales Zentrum Frühe Hilfen“ zu finden.
Diese Hilfen sollten Eltern möglichst früh in Anspruch nehmen, rät Prof. Möhler: „Sonst entsteht das Gefühl, ‚ich bin meinem Kind hilflos gegenüber, ich bin ausgeliefert, ich bin ohnmächtig. Das kann zu Depressionen führen, und auch die Beziehung der Eltern nimmt dann häufig Schaden.“ Schreiambulanzen, psychologische Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen könnten dabei helfen, wieder mehr Vertrauen in sich und die eigenen Fähigkeiten zu gewinnen: „Die Grundüberzeugung ‚Wir können gute Eltern sein!‘ ist ganz wichtig, denn die Erziehungsarbeit dauert viele Jahre. Und dieses Selbstvertrauen ist entscheidend für die Beziehung von Eltern und Kindern.“