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Nikolay Kolev im FITBOOK-Interview

Doctolib-Chef über Digitalisierung im Gesundheitswesen: »Es gibt eine deutsche Angst vor Technologie

Nikolay Kolev, Deutschland-Chef von Doctolib
Nikolay Kolev ist seit 2022 Deutschland-Chef von Doctolib Foto: Doctolib

20. August 2024, 14:33 Uhr | Lesezeit: 17 Minuten

Telefonische Terminvereinbarungen geraten zunehmend ins Hintertreffen, immer häufiger arbeiten Kliniken und Arztpraxen mit Online-Tools, um Untersuchungen und Termine mit ihren Patienten zu koordinieren. Ein solches Hilfsmittel ist die Doctolib-App. FITBOOK traf den Deutschland-Chef von Doctolib, Nikolay Kolev, zum Interview und erfuhr u. a., ob Deutschland wirklich ein Digitalisierungsproblem hat und was es mit der „deutschen Angst“ auf sich hat.

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2013 in Frankreich gegründet, kam Doctolib 2016 nach Deutschland und hat sich seitdem unter Medizinern und Patienten gleichermaßen einen Namen gemacht. Dabei steckt hinter dem Angebot der Technologiefirma weit mehr als die „bloße“ Terminvergabe via App. Nikolay Kolev, der zuvor für „WeWork“ verantwortlich war, ist seit Frühjahr 2022 Deutschland-Chef von Doctolib. Im Interview mit FITBOOK stellte er sich Fragen zum Angebot von Doctolib und geplanten Weiterentwicklungen genauso wie Kritik an No-Show-Raten oder der Datensicherheit. Außerdem erklärte er seine Sicht auf die Digitalisierung in Deutschland, seine Forderungen an die Gesundheitspolitik und seine Sorgen, wenn es um den Vergleich von Deutschland in Europa und der Welt geht.

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»In Deutschland wurden 2023 noch 144 Millionen Arztbriefe verschickt

FITBOOK: Herr Kolev, ein X-Nutzer schrieb kürzlich: „Verbringe gerade ein paar Tage in Deutschland. Meine Tochter hat gerade ein Praktikum in einer Klinik hier abgeschlossen. Sie erzählt mir, dass deutsche Kliniken und Krankenhäuser tatsächlich immer noch per Fax miteinander kommunizieren. Was ist nur mit diesem Land passiert?“ Stellen Sie sich diese Frage auch manchmal?
Nikolay Kolev: „Es wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre. Wir haben in Deutschland im vergangenen Jahr tatsächlich noch 144 Millionen Arztbriefe verschickt und 95 Prozent der Kommunikation findet noch mit dem guten alten Fax statt. Die gute Nachricht ist, dass wir die Brieftaube in die Rente geschickt haben, die schlechte: Wir haben sie mit dem Fax abgelöst. Es ist eine Notlage sondergleichen. Das Fax ist nur ein Beispiel, es gibt noch viele andere. Uns fehlen massiv Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte. Gleichzeitig haben wir in Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt, das mehr als 480 Milliarden kostet – dann muss man sich wirklich fragen: Was läuft hier falsch?“

Immerhin läuft es bei Ihnen ganz ordentlich. Mittlerweile nutzen 20 Millionen Menschen Doctolib in Deutschland. Das sind aber immer noch weitaus weniger als im Gründungsland Frankreich. Woran liegt das?
„Der Unterschied ist gar nicht so sehr, dass die Franzosen affiner sind oder nicht. Es liegt unter anderem daran, dass das französische Gesundheitssystem zentral geführt wird, was seine Vor- und Nachteile hat. Das sieht bei uns anders aus. Ich werde oft gefragt, wie der Markteintritt in dem komplexesten, aber größten Gesundheitsmarkt in Europa aussieht – und meine Antwort ist: Es gibt keinen Markteintritt in Deutschland, es gibt einen Markteintritt in 16 Bundesländer.“

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»Deutsche Gesundheitsbranche bei der Digitalisierung 20 Jahre zu spät dran

Die Menschen in Deutschland sind also nicht digitalisierungsmüde …
„Ich halte es für ein Ammenmärchen, dass die Affinität bei den Leuten nicht da ist. Das kaufe ich nicht mehr. Die Wahrheit ist: Die Gesundheitsbranche hat sich in der Digitalisierung ganz brav hintenangestellt und erkennt jetzt, 20 Jahre nach den anderen, dass etwas getan werden muss. Meine Eltern sind 66, die buchen ihre Reisen online, machen Onlinebanking usw. Wir dürfen uns also nicht verstecken hinter einem vermeintlich niedrigen Digitalisierungsgrad bei den Menschen, sondern müssen erkennen: Es ist das Gesundheitssystem, das in die Puschen kommen muss und den gleichen Qualitäts-, Sicherheits- und Experience-Standard liefern muss wie andere Bereiche auch.“

In der öffentlichen Debatte geht es aber eher darum, ob Ärzte angesichts von Künstlicher Intelligenz um ihren Job fürchten müssen …
„Kein Mensch will mit Künstlicher Intelligenz den Arzt ersetzen. Aber wir brauchen massiv Unterstützung, Erleichterung und Entlastung. Hinzu kommt, dass ein Arzt in einer ländlichen Region ganz anders befähigt wäre, wenn er Zugang zu zwei Milliarden Befunden hätte. Warum sollte er dieses Wissen nicht nutzen?“

„Es gibt eine deutsche Angst“

Weil in der Diskussion der Fokus doch eher auf mögliche Risiken statt auf Chancen gelegt wird.
„Es gibt durchaus eine deutsche Angst, die Technologie als Gefahr betrachtet. Wir müssen uns schneller den Entwicklungen anpassen. Wenn ich mir heute die Schulbücher meines Sohnes in der sechsten Klasse anschaue, dann wundere ich mich schon. Da steht das Gleiche wie vor 30 Jahren drin. Die Methode des Lernens ist veraltet und fördert nicht individuelle Stärken und Qualität.“

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Zumindest bei der Technologie setzen Sie mit Doctolib auch an. Mit der Online-Terminbuchung beispielsweise können Praxen ihre verfügbaren Kapazitäten optimal nutzen und Patienten kommen bestenfalls schneller zu einer Behandlung.
„Eine Plattform funktioniert nur dann, wenn beide Seiten einen glasklaren Benefit haben. Wir verkaufen keine Digitalisierung als Selbstzweck. Entweder wir schaffen auf der Seite der Ärzte, Krankenhäuser und Medizinischen Fachangestellten einen spürbaren Nutzen im Sinne von Entlastung, mehr Umsatz oder einer drastischen Zeitersparnis, damit sie sich auf das Wesentliche, nämlich auf die Patientinnen und Patienten, fokussieren können, oder eine Plattform bzw. Funktion innerhalb einer Plattform ist unbrauchbar. Die Terminbuchungsfunktion ist heute dabei nur ein Teil des Angebots …“

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Dahin entwickelt sich das Doctolib-Angebot

Welche neuen Funktionen gibt es und woran arbeiten Sie noch?
„An der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, etwa mit einer Messaging-Funktion, an Dokumentenaustausch usw. Wir bewegen uns Schritt für Schritt aus dem Wartezimmer ins Behandlungszimmer. Im Moment sind wir in den letzten Zügen, eine Praxisverwaltungssoftware zu erstellen, weil wir auch da glauben, dass der Markt weit hinter dem ist, was Ärzte heute brauchen. Und bei den Patienten geht es um Zugang, der schnell und auf Augenhöhe sein soll – und dass jeder, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft und Einkommen, äquivalenten Zugang zum System bekommt. Dem ist heute nicht so.“

… obwohl die Kapazitäten im Gesundheitssystem oftmals sogar zur Verfügung stünden.
„Wir reduzieren die No-Show-Quote in Praxen um 40 Prozent und machen die unsichtbaren Kapazitäten transparent. Auf einer Veranstaltung kam kürzlich eine Dame zu mir und hat sich bedankt. Sie erzählte mir, sie habe eine Krebserkrankung und der nächste MRT-Termin wäre erst in vier Monaten gewesen. Dadurch, dass andere Termine entfallen sind, hat sie dann einen Termin innerhalb von zwei Wochen bekommen. Es gibt unendlich viele Beispiele wie diese.“

Die No-Show-Rate bei Doctolib

Manche Ärzte sagen aber auch, die No-Show-Rate bei Doctolib sei hoch, weshalb sie nur einen Bruchteil der freien Termine über die Plattform anbieten …
„Es gibt drei Hauptgründe für No-Shows. An häufigsten kommt vor, dass der Patient niemanden erreicht hat, um den Termin abzusagen. Der zweithäufigste Grund ist, dass der Patient den Termin einfach vergessen hat. Mit Abstand am seltensten ist, dass der Patient absichtlich nicht erschienen ist. Das stellt aber die absolute Minderheit dar.“

Liegt es dann daran, dass die Mitarbeiter in den Praxen nicht wissen, wie sie das System richtig nutzen?
„Das ist einer der Gründe. Wir unterstützen die Praxen aber mit einem Team. Wir schulen virtuell und vor Ort und überprüfen, ob das System so eingestellt ist, dass es wie gewünscht funktioniert. Denn oft ändert sich das Personal, und neue Mitarbeiter müssen eingearbeitet werden. Hinzu kommt, dass immer wieder neue Funktionen hinzukommen, etwa im Bereich der Patientenkommunikation oder beim Management der Aufgaben. Diesen Service, das Schulen und Überprüfen der Systeme, bieten wir kostenlos an, weil wir wissen, dass die Nutzerfreundlichkeit ansonsten leidet.“

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Warum Doctolib auch Daten von Patienten bekommen kann, die telefonisch Termine machen

Welche Daten bekommt Doctolib, wenn man die Terminfunktion nutzt?
„Wenn man sich selbst anmeldet, erfahren wir nur die Daten, die angegeben wurden – etwa Vor- und Nachnamen, E-Mail-Adresse und Mobilnummer. Diese Daten sind aus medizinischer Sicht nicht so relevant. Wenn der Arzt Doctolib als Patienten- und Terminmanagementsystem nutzt, können auch Patienten ins System eingetragen werden, die ihre Termine telefonisch oder persönlich vereinbaren. In diesem Fall liegt es in der Verantwortung der Praxen, die Patienten zu informieren, wie ihre Daten verarbeitet werden. Dies kann über die Website oder einen Aushang in der Praxis geschehen. Alles ist sehr klar in der DSGVO geregelt, und wir unterstützen die Ärzte dabei.“

Aber da hakt es …
„Es gibt Probleme, weil die Kommunikationskanäle oft unterbrochen sind. Viele Menschen lesen nicht jeden Aushang in der Praxis, besonders wenn sie unter Stress stehen, zum Beispiel vor einer Blutabnahme. Auch landen viele E-Mails im Spamfilter. Wir versuchen daher, eine konsistente Kommunikation zu etablieren. Wenn zum Beispiel ein Arzt über die App eine Erinnerung schickt und dem Patienten schreibt: ‚Sie haben in zwei Tagen einen Termin für A. Bitte denken Sie an B, C und D‘ – dann ist das für den Patienten im Kontext und verständlich.“

„Ziel ist, Patienten einen schnellen und gleichberechtigten Zugang zu Terminen zu ermöglichen“

Wo sehen Sie derzeit das größte Potenzial, in der Sie mit Doctolib etwas bewegen können?
„Aktuell ist es so, dass auf der Seite der Patienten drei von vier Menschen ins Leere laufen, wenn sie zum Arzt wollen. Terminvergabe klingt zwar banal, aber dahinter steckt ein riesiger Aufwand auf beiden Seiten. Insofern ist es essenziell und somit ein Ziel, den Patienten einen schnellen und gleichberechtigten Zugang zu Terminen zu ermöglichen.“

Und auf Seite der Behandler?
„Da ist es wichtig, eine technologische Unterstützung zu haben, die verhindert, dass Ärzte drei bis vier Stunden täglich mit administrativen Aufgaben verbringen. Stattdessen sollten sie sich auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können, für die sie ausgebildet wurden. Das wird zwar kaum thematisiert, wenn man sich jedoch mit Ärzten unterhält, merkt man, dass sie überlastet sind. Man geht ins Krankenhaus und es ist überall Not am Mann.“

Doctolib soll Ärzte bürokratisch entlasten

Sie haben selbst einmal gesagt, dass auch die Kompetenz im Umgang mit den administrativen Aufgaben fehlt.
„Das stimmt, aber in den vergangenen Jahren hat sich die Administration und der Aufwand, der nicht direkt zur Heilung der Patienten beiträgt, stetig erhöht. Statt Bürokratie zu reduzieren, wurde sie erweitert. Die Kombination dieser beiden Faktoren führt zu einem erheblichen Zeitaufwand von zwei bis vier Stunden pro Tag. Natürlich verändern sich Berufe. Aber wollen wir wirklich, dass Ärztinnen und Ärzte für administrative Tätigkeiten ausgebildet werden? Oder wollen wir ihnen durch technologische Lösungen die Bürokratie abnehmen, damit sie sich besser, schneller und effizienter um die Heilung der Patienten kümmern können?“

„Wir brauchen dringend eine Veränderung im Gesundheitswesen“

Muss dieses Problem nicht zentral gelöst werden? Andernfalls droht doch ein Flickenteppich …
„Natürlich kann man nicht für jedes Krankenhaus und jedes Bundesland ein eigenes Produkt bauen, aber leider mangelt es an vielen Stellen am technologischen Verständnis. Anpassungen sind möglich, aber Standardisierung und Skalierbarkeit sind essenziell. Sonst sind wir zu langsam im Vergleich zu Ländern wie den USA, die ein Modell verwenden, das alle nutzen können, und es dann individuell anpassen. Wir verwechseln oft Pilotprojekte mit finalen Lösungen. Natürlich brauchen wir Pilotprojekte, aber sie sind nicht das, was man im ganzen Land implementieren sollte. Wir brauchen dringend eine Veränderung im Gesundheitswesen, die eigentlich schon vor einem Jahrzehnt hätte stattfinden sollen.“

Das fordert der Doctolib-CEO für den Gesundheitsmarkt

Eine Herausforderung ist dabei häufig, dass Systeme nicht miteinander kommunizieren können.
„Interoperabilität darf nicht nur ein Wort sein, sondern muss als Verpflichtung gesehen werden. Marktteilnehmer müssen sich dazu verpflichten, APIs zu öffnen und Interoperabilität zu gewährleisten, anstatt sich dagegen zu wehren. Es gibt viele Schritte, die der Markt heute schon unternehmen kann, um Verbesserungen zu erzielen.“

Haben wir da nicht bereits zu viel Zeit verloren?
„Wir müssen Technologiestufen überspringen, wie wir es beim Übergang vom Festnetztelefon zum Mobiltelefon getan haben. Da haben wir auch nicht angefangen, die Telefonschnur immer kürzer zu machen. Grundsätzlich bin ich optimistisch, da der technologische Fortschritt stark ist. Aber wir brauchen eine realistische Diskussion, vor allem auch in der Öffentlichkeit. Datenschutz und Sicherheit sind wichtiger denn je, besonders im Zeitalter der KI. Aber wir müssen eine Diskussion führen, die Vertrauen schafft in diese Technologien und sie nicht als eine Blackbox darstellt und so tut, als sei das Fax noch die Lösung für das nächste Jahrzehnt.“

Diskussion um Datenschutz wird falsch geführt

Sie haben das Thema Datenschutz angesprochen. Sind wir in Deutschland noch zu zögerlich beim Weitergeben von Daten, die einen großen Nutzen bei der Prävention oder Therapie von Krankheiten haben könnten?
„Ich denke, die Diskussion, die wir führen, ist oft oberflächlich, maximal polarisierend und von Angst geprägt – wie leider viele politische Debatten heutzutage. Datenschutz und Datensicherheit werden häufig vermischt, obwohl es sich um zwei völlig verschiedene Dinge handelt. Beim Datenschutz gibt es keine Grauzonen: Entweder man ist DSGVO-konform oder nicht. Wenn nicht, kann man in diesem Markt nicht tätig sein, denn hier stehen nicht kommerzielle Interessen, sondern die Patienten im Vordergrund.“

Und beim Thema Datensicherheit?
„Da ist es anders. Eine hundertprozentige Datensicherheit gibt es nicht, weder online noch offline, besonders nicht bei veralteten Servern. Das sollten wir auch nicht suggerieren. Es geht darum, ständig an den besten Standards zu arbeiten und stets an der Spitze zu bleiben.“

Nun trennen viele Menschen nicht scharf zwischen Datenschutz und Datensicherheit – und die Skepsis bei manchen bleibt …
„Man muss es eben differenziert betrachten. Der italienische Schriftsteller Umberto Eco sagte einmal sinngemäß: ‚Es gibt auf jedes hochkomplexe Problem eine extrem einfache Antwort, die ist nur meistens falsch‘.“

Von Berufs wegen müssten Sie aber zuversichtlich sein.
„Ich bin optimistisch, dass wir auf dieser Ebene eine vertrauensbildende und bessere Diskussion führen können. Wenn man Ärzte und Patienten fragt, gibt es eine hohe Bereitschaft, anonymisierte Daten für künstliche Intelligenz zu nutzen, wenn dies der eigenen Gesundheit dient und auch anderen helfen kann. Jeder Einzelne sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein in Bezug auf andere und sich selbst.“

Datensicherheit muss staatlich geregelt werden

Können Sie garantieren, dass solche sensiblen Gesundheitsdaten in zehn oder zwanzig Jahren nicht doch zum Nachteil für Patienten werden, etwa beim Abschluss von Versicherungen?
„Hier liegt die Verantwortung ganz beim Staat. Sie müssen klare Regeln setzen – und die Unternehmen müssen sie einhalten. In Europa haben wir ein feines Gespür dafür, wie man solche Regularien umsetzt. Woanders auf der Welt herrscht da nicht immer das gleiche Verständnis. Daher ist es wichtig, dass wir in solchen sensiblen Bereichen wie der Datensicherheit starke lokale Player haben. Wenn wir hier in Europa einen Goldstandard haben und ihn durchsetzen, dann haben wir auch global eine Chance.“

Warum die elektronische Patientenakte (ePa) noch keine gute Lösung darstellt

Noch gibt es die bereits beschriebenen Hürden im Gesundheitswesen. Ist die elektronische Patientenakte (ePa) ein richtiger Schritt, um Probleme wie doppelte Untersuchungen oder fehlende Informationen zu lösen?
„Dafür müsste die elektronische Patientenakte (ePa) zunächst einmal geöffnet sein, damit die unterschiedlichen Beteiligten sie nutzen können. Momentan bauen wir jedoch eine silobehaftete ePa, die in sich abgetrennt ist. Das ist wie ein Schrank mit zig Schubladen, die untereinander nicht miteinander verbunden sind. Hinzu kommt die bereits erwähnte Interoperabilität, die gewährleisten muss, dass verschiedene Systeme miteinander kompatibel sind. Der Dokumentenaustausch ist ein weiteres wichtiges Thema. Noch immer müssen Unterlagen häufig erneut angefordert werden. Die Belastung für das System durch solche redundanten Arbeiten ist brachial.“

Mediziner hat sieben Minuten Zeit für die Behandlung!

Und alle sind genervt, Praxismitarbeiter, Arzt, Patient …
„Um dem entgegenzuwirken, haben wir viel in die Kommunikation und Dokumentenverwaltung investiert. Patienten können dem behandelnden Arzt vorab Nachrichten und relevante Dokumente schicken. Der Facharzt kann vorab darauf hinweisen, welche Unterlagen erforderlich sind und dass beispielsweise noch das Blutbild fehlt, das beim Hausarzt gemacht wurde. Aktuell hat ein Mediziner 90 Sekunden Zeit für die Vorbereitung und sieben Minuten für die Behandlung. Das ist absurd!“

Passieren Fehler dann nicht zwangsläufig?
„Wir haben etwa 2800 Unfalltote pro Jahr – und etwa 20.000 Menschen sterben jährlich durch Fehlmedikation. Gerade ältere Menschen wissen nicht immer, welche Medikamente sie nehmen. Und es ist doch absolut inakzeptabel, dass jemand stirbt, weil er mit Medikamenten behandelt wurde, die nicht miteinander kompatibel sind.“

Das fordert Doctolib-CEO Kolev von Karl Lauterbach

Welche Reformen müsste unser Gesundheitsminister Karl Lauterbach umsetzen?
„In Frankreich ist Big Tech Chefsache. Und ich lasse die Frage mal im Raum, ob das auch in Deutschland der Fall ist. Im Bereich der Gesundheit müssen wir systemischen Impact erzeugen, insbesondere durch Bürokratieabbau. Wir müssen Milliarden an Aufwand, die kein Ergebnis bringen, rausnehmen und dort reinstecken, wo es wirklich sinnvoll und wichtig ist. Unser Ziel ist nicht das günstigste Gesundheitssystem der Welt, sondern ein effizientes. Wir müssen weg von einem kurativen, auf Krankheiten fokussiertes System hin zu einem gesundheitsorientierten. Das lässt sich von oben viel besser steuern. Es ist wichtig, dass wir uns mehr mit der Erhaltung der Gesundheit als mit der Heilung von Krankheiten beschäftigen. Aber das passiert heute nicht. Bei Doctolib haben wir mittlerweile eine eigene Einheit für Prävention. Weil wir glauben, dass wir jetzt groß und stark genug sind, um das Thema nach vorne zu bringen. Allein durch die Pandemie wurden 44 Millionen Vorsorgetermine nicht wahrgenommen.“

Eine derart fundamentale Änderung der Haltung ist eine Mammutaufgabe …
„Es ist ein schwieriges Thema, aber es kommt auf die Konsistenz an. Es spielt keine Rolle, welche Regierung in welcher Farbe an der Macht ist. Alle Stakeholder sind gefragt, sowohl die da oben als auch die Menschen an der Basis. Als Doctolib angefangen hat, war es ein Straßenkampf um jede Praxis. Viele haben gesagt, es wird nie funktionieren, aber am Ende müssen alle zusammenarbeiten, weil es sonst in Europa nicht funktionieren wird. Wir müssen eine positive Trendlinie zeigen, sonst haben wir ein Problem.“

»Mit Doctolib haben wir die Mission, den Wandel hin zur Prävention zu unterstützen

Wie bereits erwähnt hat Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt – und dennoch sinkt die Lebenserwartung. Hier spielen zahlreiche Faktoren mit hinein, etwa mangelnde Bewegung und schlechte Ernährung. Wie stark kann Doctolib hier überhaupt eingreifen?
„Das ist wirklich eine komplexe Wissenschaft. Es geht darum, wie wir die letzten 20 Jahre unseres Lebens so gestalten können wie die ersten 60. Es geht nicht unbedingt darum, dass wir 100 Jahre alt werden – vielleicht unsere Kinder oder Enkelkinder. Für uns geht es darum, dass die letzten 20 Jahre fast so gut sind wie die ersten 60. Bewegung ist ein wichtiger Faktor, aber auch Ernährung spielt eine große Rolle. Unser Gesundheitssystem ist stark auf die Behandlung von Krankheiten ausgerichtet und nicht darauf, präventiv zu handeln. Wir sehen es als unsere Mission, diesen Wandel zu unterstützen. Ich glaube, dass dies kein langsamer, kontinuierlicher Prozess ist, sondern eine Frage des Mindsets und der Erziehung. Es geht auch darum, wie Technologie uns im Alltag unterstützt. Wenn man früh lernt, dass Vorsorge wichtig ist – sei es für die Zähne, Organe oder anderes – dann wird es Teil der Routine. Bei den meisten Menschen ist das derzeit nicht der Fall.“

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»Dänemark und Israel können unsere Vorbilder sein

Gibt es ein Land, das bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen als Vorbild für Deutschland dienen kann?
„Dänemark ist ein gutes Beispiel. Auch Israel beeindruckt durch die Zusammenarbeit zwischen Staat und Privatwirtschaft und die technologische Offenheit. Hinzu kommt die Schnelligkeit, mit der Dinge umgesetzt werden. Es ist beeindruckend, wie affin diese Gesellschaft ist und auch als wie existenziell Fortschritt erachtet wird.“

Wie sehen Sie derzeit die Lage in Deutschland? Nicht nur in der Gesundheit könnte es schneller vorangehen – die gesamte Wirtschaft schwächelt …
„Ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Kinder. Ich bin mit meinen Eltern aus Bulgarien hierhergezogen, weil Deutschland der Bildungsstandort Nummer eins war. All diese Dinge bröckeln, und ich mache mir Gedanken, ob meine Kinder in 20 Jahren im globalen Wettbewerb der Systeme Bürger zweiter Klasse sein werden – weil Bildung, Gesundheitsversorgung, Sicherheit und der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht mehr erstklassig sind. Das sind Dinge, die wirklich bewegen.“

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