
30. Juni 2025, 16:11 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
ChatGPT ist für viele aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Egal ob es darum geht, Texte zusammenzufassen, Beziehungsprobleme zu sortieren oder sich die neuesten Rezepte generieren zu lassen – die KI ist dafür zu haben. Sie liefert schnell, bequem und erstaunlich überzeugend Antworten auf fast alles. Aber was passiert eigentlich in unseren Köpfen, wenn wir uns beim Denken, Schreiben und Problemlösen zunehmend auf künstliche Intelligenz verlassen? Eine neue Studie aus den USA zeigt: Wer regelmäßig mit KI schreibt, könnte seinem Gehirn mehr schaden als helfen.
Die Nutzung von KI-Tools wie ChatGPT in Schulen, Universitäten und im Alltag nimmt rasant zu – besonders beim Schreiben. Doch wie verändert der Einsatz solcher Systeme unser Denken, unsere Erinnerung und unser Verhältnis zum eigenen Text? Hierzu liefert aktuell eine Studie des Massachusetts Institute of Technology spannende Einblicke.1 Mithilfe von Hirnstrommessungen, Sprachanalysen und Interviews haben Forschende erstmals umfassend untersucht, wie sich die Unterstützung durch KI beim Schreiben auf kognitive Prozesse und Lernerfahrungen auswirkt.
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Übersicht
Was und warum wurde untersucht?
Die Forscher wollten wissen, ob das Schreiben mithilfe einer KI das Denken verändert. Dafür untersuchten sie drei Gruppen:
- Eine Gruppe, die mit einem KI-Schreibassistenten wie ChatGPT arbeitete (Large Language Model)
- Eine Gruppe, die Inhalte über klassische Internetrecherche zusammentrug
- Und eine Gruppe, die komplett ohne Hilfsmittel schrieb – also nur mit dem eigenen Wissen
Das Ziel war, die kognitiven Folgen der Nutzung solcher Systeme zu messen – also die Auswirkungen auf Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache und das Gefühl, selbst der Autor des eigenen Textes zu sein. Besonders interessiert waren die Forschenden an der Frage: Entsteht durch regelmäßige KI-Nutzung ein „kognitiver Schuldenberg“ – also eine Art schleichender Abbau geistiger Eigenleistung?
Studiendesign und Methoden
Die Untersuchung lief über vier Monate und umfasste 54 Teilnehmende. Die Teilnehmenden waren überwiegend junge Erwachsene mit akademischem Hintergrund, größtenteils Studierende, die bereits mit digitalen Tools vertraut waren. Dies ergibt sich unter anderem aus der Verwendung von Themenformaten, die an den amerikanischen SAT-Standard angelehnt sind – also an standardisierte Tests zur Studienzulassung.
Jede Person schrieb zunächst drei Essays – immer unter der gleichen Bedingung (mit oder ohne Hilfsmittel). In einer vierten Sitzung wurden die Bedingungen dann gewechselt:
- Wer vorher mit einem KI-Schreibassistenten wie ChatGPT schrieb, musste nun ohne sie arbeiten
- Wer zuvor ohne Hilfsmittel gearbeitet hatte, bekam nun Zugang zu einem KI-Schreibassistenten wie ChatGPT
Während des Schreibens wurde die Gehirnaktivität per Elektroenzephalographie gemessen – eine Methode, bei der Hirnströme über Elektroden erfasst werden. Dabei lag der Fokus auf bestimmten Frequenzbereichen des Gehirns, etwa den Alpha- und Beta-Bändern, die mit Konzentration, Gedächtnisabruf und geistiger Aktivität verbunden sind.
Die Essays wurden zusätzlich sprachlich analysiert – unter anderem auf Satzmuster, Fachbegriffe (sogenannte ‚Named Entities‘) und typische Formulierungen. Bewertet wurden die Texte durch menschliche Lehrkräfte und ein speziell entwickeltes KI-Bewertungssystem. Interviews mit den Teilnehmenden lieferten ergänzende Einblicke in Selbstwahrnehmung und Erinnerungsfähigkeit.
So wirkt die Nutzung von KI auf unser Gehirn
Die Hirnstrommessungen zeigten einen klaren Zusammenhang: je stärker die technische Unterstützung, desto geringer die gemessene Gehirnaktivität.
- Teilnehmende, die ohne Hilfsmittel schrieben, zeigten die stärkste und breiteste Gehirnaktivität.
- Wer mit Suchmaschine arbeitete, lag im Mittelfeld.
- Die Nutzer eines KI-Schreibassistenten wiesen die geringste Aktivierung auf – vor allem in den Alpha- und Beta-Bereichen des Gehirns, die für Aufmerksamkeit, Gedächtnisleistung und Integration von Informationen wichtig sind.
Mit anderen Worten: Je mehr Unterstützung durch Technik – desto weniger Eigenleistung im Kopf.
Sprachliche Unterschiede: Weniger Vielfalt durch Large Language Models (LLM)
Auch die Inhalte der Essays zeigten deutliche Unterschiede:
- Die Texte aus der LLM-Gruppe (z. B. ChatGPT) waren oft sprachlich glatt, aber wenig individuell – sie enthielten häufig ähnliche Wendungen und folgten einem typischen KI-Muster.
- Die Texte der „Brain only“-Gruppe wirkten kreativer und eigenständiger, auch wenn sie sprachlich manchmal weniger perfekt waren.
- Die Suchmaschinen-Gruppe lag erneut dazwischen: besser strukturiert als komplett ohne Hilfsmittel, aber mit mehr Eigenleistung als bei der LLM-Gruppe.
Gedächtnis und Zitatfähigkeit: Wer mit KI schreibt, erinnert sich schlechter
Ein zentrales Ergebnis der Interviews:
- LLM-Nutzer konnten sich oft nicht an eigene Formulierungen erinnern, obwohl sie diese nur wenige Minuten zuvor geschrieben hatten.
- Auch das korrekte Zitieren der eigenen Texte fiel ihnen schwerer.
- Die „Brain only“-Gruppe hingegen hatte deutlich bessere Erinnerungswerte und konnte ihre Aussagen meist genau wiedergeben.
Das spricht dafür, dass das Schreiben mit KI die aktive Verarbeitung von Inhalten reduziert – und damit auch das Verankern im Gedächtnis.
Wirkung auf das Gefühl, verantwortlich zu sein für den Text
Viele Teilnehmende äußerten sich zur gefühlten Verantwortung für ihren Text:
- In der LLM-Gruppe war das Gefühl, den Text wirklich „selbst geschrieben“ zu haben, am niedrigsten.
- Die Suchmaschinen-Gruppe fühlte sich etwas mehr beteiligt.
- Die Gruppe ohne Hilfe hatte das höchste Maß an Textverantwortung – für sie war klar: Der Text gehört mir.
Vierte Sitzung: Was passiert beim Wechsel?
Besonders aufschlussreich war der Bedingungswechsel in der vierten Sitzung:
- Diejenigen, die vorher mit KI gearbeitet hatten und nun ohne auskommen mussten, zeigten eine deutlich geringere Hirnaktivität – ein Zeichen von Unterforderung oder Gewöhnung.
- Umgekehrt zeigten die Probanden mehr Aktivierung, wenn sie zunächst ohne Hilfe auskommen mussten und dann ein KI-Sprachmodell nutzen konnten – als wenn sie dieses von vornherein nutzen konnten
- Der plötzliche Wechsel zur KI führte offenbar zu mehr kognitiver Auseinandersetzung mit dem Output – das Gehirn arbeitete wieder aktiver.
Warum sind diese Ergebnisse wichtig?
Die Studie zeigt: Wer sich beim Schreiben regelmäßig auf KI verlässt, könnte langfristig geistige Eigenleistung abbauen – ohne es zu merken. Zwar helfen Tools wie ChatGPT, schnell zu Ergebnissen zu kommen. Doch die eigene Konzentration, das Erinnerungsvermögen und das Gefühl für Sprache leiden messbar.
Für den Bildungsbereich ergibt sich daraus eine klare Herausforderung:
- Wie lässt sich KI sinnvoll integrieren, ohne das Lernen zu schwächen?
- Und wie können Schüler und Studierende lernen, mit solchen Werkzeugen verantwortungsvoll umzugehen?
Auch für Lehrkräfte, Schulträger und Hochschulen ist das Thema hochrelevant. Denn: Wer Texte nicht mehr selbst erarbeitet, verlernt womöglich, sie zu verstehen – oder überhaupt zu behalten.
Grenzen der Studie
So fundiert die Studie auch ist – es gibt Einschränkungen: Es handelt sich um einen Preprint, also eine noch nicht durch Fachgutachter geprüfte Veröffentlichung. Der Teilnehmerkreis war mit 54 Personen relativ klein. Die genaue Nutzung der KI (z. B. welche Eingaben gemacht wurden) wurde nicht standardisiert erfasst – Unterschiede im Vorgehen könnten die Ergebnisse beeinflusst haben. Und: Vier Monate sind eine beachtliche Zeit – aber nicht lang genug, um langfristige Gehirnveränderungen eindeutig zu belegen.

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Fazit
Die MIT-Studie liefert einen wichtigen Denkanstoß: KI kann vieles erleichtern – aber auch geistig entkoppeln. Vor allem bei dauerhafter Nutzung kann das Gedächtnis leiden, die geistige Eigenaktivität zurückgehen – und das Gefühl für den eigenen Text verschwinden. Wer beim Schreiben denkt, Zeit zu sparen, riskiert womöglich eine schleichende mentale Entwöhnung. Die zentrale Frage bleibt: Wie kann KI beim Lernen helfen – ohne dass wir verlernen, selbst zu denken?