
24. Juni 2025, 15:13 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Schmerzmittel aus Müll? Schottische Forscher haben einen Weg gefunden, bei dem herkömmliches Plastik nahezu vollständig in Paracetamol umgewandelt wird. FITBOOK-Autorin Friederike Ostermeyer erklärt, was es mit dieser bahnbrechenden Entdeckung auf sich hat und ob das beliebte Medikament in Zukunft aus alten Colaflaschen und Co. gewonnen wird.
Paracetamol ist eines der weltweit meistverkauften Schmerzmittel. Es ist gut verträglich, rasch wirksam und auch für Kinder und in dringenden Fällen für Schwangere geeignet. Weniger bekannt ist, dass Paracetamol aus Rohöl hergestellt wird, einem fossilen Brennstoff, dessen Verfügbarkeit begrenzt ist. Auch für die Herstellung von Plastik braucht es Rohöl, wovon es – vor allem auf den Mülldeponien – nicht mangelt. Gleicher Stoff, unterschiedliches Produkt also. Forscher der University of Edinburgh wollten herausfinden, ob sich eine Methode entwickeln ließe, bei der sie für die Herstellung von Paracetamol weggeworfenes Plastik verwenden, anstatt neue Ressourcen anzuzapfen. Dies ist ihnen nun gelungen – und zwar mit einem ganz besonderen „Helfer-Team“.1
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Übersicht
Was und warum wurde untersucht wurde
Die Forscher hatten das Ziel, eine bestimmte chemische Reaktion, die sogenannte Lossen-Umlagerung, in das metabolische Netzwerk von E.-coli-Bakterien zu integrieren. Damit sollte einerseits versucht werden, das Wachstum bestimmter Bakterienstämme gezielt zu steuern. Zweitens sollte ein konkretes medizinisches Produkt – in diesem Fall Paracetamol – direkt aus einem Plastikflaschen-Derivat erzeugt werden. Die Studie verfolgte das übergeordnete Ziel, chemische Umwandlungen in lebenden Systemen zu ermöglichen und sie zur Aufwertung von Plastikmüll einzusetzen.
Lossen-Umlagerung – Forscher verwenden altbekannten Chemietrick
Die Lossen-Umlagerung ist eine seit 150 Jahren bekannte chemische Reaktion, bei der ein bestimmtes Molekül in ein Amin umgewandelt wird. Amine sind vielseitige Verbindungen, die man beispielsweise für die Herstellung von Medikamenten oder andere nützliche Produkte verwenden kann. Dieser Vorgang ist jedoch ziemlich kompliziert und energieaufwändig, da hohe Temperaturen und weitere giftige Chemikalien benötigt werden.
Paracetamol aus Plastik – dank Bakterien
Um das aufwendige Verfahren zu umgehen, wählten die Forscher einen ungewöhnlichen Weg. Sie zerlegten Plastik, genauer Polyethylenterephthalat (PET), zunächst in kleinste Terephthalsäure-Moleküle und führten diese einem harmlosen, genetisch veränderten E.-coli-Bakterienstamm zu. Die Mikroorganismen, die natürlicherweise in der Darmflora jedes Menschen vorkommen, vermochten es, aus dem zerlegten Plastik-Zwischenprodukt eine organische Säure – genauer ein Amin namens PABA – herzustellen. Durch das Hinzufügen von zwei weiteren Genen aus Pilzen und Bodenbakterien gelang es den Bakterien schließlich, PABA mit einer Ausbeute von 92 Prozent in reines Paracetamol umzuwandeln.
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Wenig Aufwand, großer Nutzen
Den Fermentationsprozess dahinter kann man sich ein bisschen wie beim Bierbrauen vorstellen, heißt es in einer Universitätsmitteilung.2 Und: Die durch die Bakterien durchgeführte Lossen-Umlagerung dauert weniger als 24 Stunden, ist völlig ungiftig und kann bei Raumtemperatur durchgeführt werden. Da die Bakterien die gesamte Arbeit erledigen, ist der Vorgang nahezu emissionsfrei und damit kostengünstig. Bleibt die Frage: Wird demnächst ein Teil der jährlich verursachten 350 Millionen Tonnen Plastikabfall in schmerzstillendes Paracetamol umgewandelt?
Medikamente aus Müll? Das sagt der Studienleiter
„Wir stehen noch am Anfang“, erklärt Studienleiter Prof. Stephen Wallace gegenüber FITBOOK. „Realistisch betrachtet wird es wahrscheinlich fünf bis zehn Jahre dauern, bis auf diese Weise hergestellte Arzneimittel in den Apotheken erhältlich sind.“ Die Tatsache, dass der Prozess überhaupt funktioniert, sei dennoch ein großer Schritt nach vorn. Mikroorganismen spielten bereits eine entscheidende Rolle in der Medizin. „Aber wir treten jetzt in eine neue Ära ein, in der ihr volles Potenzial gerade erst entdeckt wird.“ Forschungsarbeiten wie diese zeigen, dass die Verbindung von natürlicher und synthetischer Chemie noch viele spannende Lösungen bereithält.

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Bedeutung der Ergebnisse und Fazit
Die Arbeit von Wallace und seinem Team ist ein Meilenstein in der Integration synthetischer Chemie in lebende Systeme (Bakterien). Die Lossen-Umlagerung erlaubt sogar die Umwandlung von Kunststoffabfällen in den Wirkstoff Paracetamol. Das eröffnet neue Wege für die nachhaltige Herstellung komplexer Moleküle direkt aus biologischen oder recycelten Ausgangsstoffen. Besonders relevant ist die Anwendbarkeit auf PET, einem der häufigsten Kunststoffabfälle weltweit. Diese Arbeit liefert also eine belastbare Grundlage für künftige Entwicklungen in der Bio-Upcycling-Industrie.