19. Mai 2024, 18:06 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Ist Capoeira nun eine Kampfkunst oder ein Tanz? Fragt man Capoeiristas selbst, so ist die Antwort meist eindeutig: Es ist eine Kampfkunst. Tatsächlich kann es abhängig vom Stil sehr beherzt, wenn nicht gar angriffslustig zur Sache gehen. Der Kern beim Capoeira ist jedoch bei allen Schulen gleich: Das Spiel basiert auf einer Art Kommunikation voller Andeutungen, Ausschmückungen und List. FITBOOK erklärt die Capoeira-Grundtechniken, die verschiedenen Stile und verrät, welche Vorteile der Sport für den Körper hat.
Entwickelt aus der Not heraus, führten ursprünglich afrikanische Sklaven auf den Plantagen in Brasilien Capoeira durch, um sich gegen ihre Unterdrücker zu wehren. Heute geht es bei der Kampfkunst nicht primär darum, den Gegner zu verletzen, sondern darum, mit ihm zu „spielen“.
Übersicht
Was zeichnet Capoeira aus?
Charakteristisch für die brasilianische Kampfkunst ist, dass sie Angriffs- und Verteidigungs- bzw. Ausweichtechniken mit tänzerischen Elementen und rhythmischer Musik kombiniert. Wichtig dabei: Die beiden „Kämpfer“ sollten eine Art Bewegungsdialog führen, der flüssig, ansehnlich und immer wieder auch überraschend ist. List und Hinterlist sind dabei ebenso zentrale Bestandteile wie Kraft und Technik.
Dass viele der Tritte ihr Ziel oft zu verfehlen scheinen, hat einen komplexen Hintergrund: Einerseits soll die Flüssigkeit und Eleganz des Spiels nicht durch harte Treffer ständig unterbrochen werden, andererseits besteht das Training im Wesentlichen auch darin, den Tritten ausweichen zu lernen.
Körperkontakt ist aber dennoch fester Bestandteil von Capoeira, zum Beispiel, wenn man dem Gegner einen Fußfeger (port.: Rasteira) oder eine Ohrfeige (Galopante) verpasst. Manchmal wird jemand auch rabiat aus der sogenannten Roda, dem Kreis, in dem gespielt wird, getreten. Für einen guten Capoeira ist das genauso Teil des Spiels wie ein von ihm selbst verpasster Tritt. In den Liedern ist diese Philosophie häufiges Thema. „Na vida se cai, se leva rasteira, quem nunca caiu, não é capoeira.“ Übersetzt: „Im Leben fällt man, bekommt Fußfeger verpasst, wer nie hingefallen ist, ist kein Capoeirista.“
Die Geschichte von Capoeira
Die Ursprünge von Capoeira sind eng mit der Geschichte der Sklaverei und der Kolonialherrschaft der Portugiesen im heutigen Brasilien verbunden und reichen je nach Quelle ins 16. oder 17. Jahrhundert zurück. Um sich körperlich behaupten zu können, entwickelten die aus Afrika nach Südamerika verschleppten Sklaven aus den mitgebrachten Tänzen, Kampfkünsten und Ritualen eine frühe Form von Capoeira. Die tänzerisch anmutende Form soll dazu gedient haben, die kämpferische Natur der Bewegungen vor den Plantagenbesitzer zu verstecken. So zumindest lautet eine weitverbreitete These.
Unstrittig ist, dass Capoeira immer eng mit dem Befreiungskampf der Sklaven in Brasilien verbunden war. Entsprechend war das Praktizieren lange Zeit de facto nicht erlaubt. 1890 wurde das Verbot kurz nach der Ausrufung der Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien sogar gesetzlich festgeschrieben. Es sollte bis 1937 dauern, bis das Verbot der Kampfkunst schließlich aufgehoben wurde. Bis dahin wurde Capoeira weiterhin im Untergrund praktiziert, hauptsächlich in den urbanen Zentren Salvador da Bahia, Rio de Janeiro und Recife.
Wie läuft Capoeira ab?
Die Roda
Obwohl man Capoeira als Kampfkunst bezeichnet, spricht man von einem „Spiel“ (port.: jogo). Dieses findet innerhalb einer sogenannten „Roda“ statt: eines Menschenkreises. Der Kreis stellt jedoch nicht nur das Spielfeld dar, sondern symbolisiert gleichzeitig auch einen gesellschaftlichen Rahmen, in welchem sich die Spieler bewegen. In diesem Raum treffen zwei Spieler aufeinander und versuchen durch eine fließende und harmonische Körpersprache miteinander zu kommunizieren. Andere in der Roda stehende Capoeiristas kaufen sich dann in das Spiel ein.
Die Instrumente
Eines der wichtigsten Elemente beim Capoeira ist die Musik. Diese besteht aus:
- Drei Berimbaus (Gunga, Médio e Viola – geordnet nach der Tonhöhe)
- Atabaque (Trommel)
- Pandeiro (Tambourin)
- Agogô (Percussioninstrument aus Nussschalen)
- Klatschen
- Gesang (Hauptsänger + Chor)
Die Rhythmen
Art und Schnelligkeit des Rhythmus diktieren sowohl den Stil des Spiels als auch seine Intensität. Beim sogenannten São Bento Grande geht es meist am kämpferischsten zu, beim Benguela dominieren flüssig-elegante Bodenbewegungen. Die am meisten verbreiteten Rhythmen im Überblick:
- Angola
- Benguela
- São Bento Grande
- São Bento Pequeno
- Iúna
- Cavalaria
- Santa Maria
- Amazonas
Techniken der Kampfkunst
Die Ginga
Die „Ginga“ ist die Basisbewegung beim Capoeira und sowohl Ausgangs- als Rückkehrpunkt vieler Bewegungen: Angriff, Verteidigung, akrobatische Elemente. Schon an der Ginga lassen sich die verschiedenen Stile und Schulen ablesen. So nutzen manche gezielt die Arme, um während dieses Grundschritts exponierte Körperteile zu schützen, während andere hierauf weniger Wert legen. Von der Bewegungsabfolge erinnert die Ginga etwas an einen „Wiegeschritt“.1
Die Bewegungstypen
Bei den Capoeira-Bewegungen unterteilt man in folgende Haupttypen:
- Ausweichbewegungen (Esquivas)
- Akrobatische Bewegungen (sogenannte Floreios)
- Angriffsbewegungen (Golpes)
- Bewegungen, die den Gegner aus dem Gleichgewicht bringen, wie etwa der Fußfeger (Golpes desequilibrantes)
Stile von Capoeira
Beim Capoeira unterscheidet man im Wesentlichen zwischen zwei Hauptstilen:
- Capoeira Regional
- Capoeira Angola
Sowohl Regional als auch Angola beinhalten im Kern die gleichen Elemente wie Tritte, Würfe (Quedas), Kopfstöße (Cabeçadas) und Fußfeger (Rasteiras). Allerdings unterscheiden sie sich wesentlich beim Ausdruck und auch in der dazugehörigen Rhythmik der Musik.2
In den 1970er-Jahren erlebte Capoeira eine Art Boom, in dessen Zuge sich zahlreiche neue Schulen herausbildeten, in denen Elemente aus den beiden Hauptstilen integriert wurden. Man fasst diese modernen Formen als Capoeira Contemporânea zusammen.
Capoeira Regional
Erfunden wurde Regional von Mestre Bimba, der bis heute als einer der wichtigsten Meister gilt und in vielen Liedern besungen wird. Bimba, der aus Salvador da Bahia stammt, integrierte in seinen Stil Elemente anderer Kampfkünste und machte Capoeira somit auch zu einer Verteidigungstechnik. Um die Effektivität seines Stils zu demonstrieren, kämpfte er öffentlich gegen Vertreter anderer Kampfkünste. Seinen Schülern brachte Bimba den zunächst als „Luta regional da Bahia“ (z. Dt.: Regionaler Kampf aus Bahia) Stil mithilfe von acht Sequenzen bei, in welche die wichtigsten Grundbewegungen integriert sind.
Typisch für Capoeira Regional sind kraftvolle, schnelle und kämpferische Bewegungen. Auch akrobatische Techniken („floreios“) wie Radschläge, Saltos oder Flick-Flacks sind ein wichtiger Bestandteil. Überdies enthält Capoeira Regional auch angepasste Wurftechniken aus dem Jiu-Jitsu oder Judo sowie Techniken anderer Kampfkünste.
Capoeira Angola
Angola gilt als ursprüngliche Form von Capoeira, in der mutmaßlich aus noch sehr viele Elemente aus der frühen Zeit zu finden sind. Essenzielle Merkmale sind ein meist ritueller wirkendes, bodennäheres und langsameres Spiel, was aber plötzliche, schnelle und auch kämpferische Angriffe nicht ausschließt.
Im Gegensatz zu Regional gibt es bei Angola keinen Erfinder. Dafür aber einen Meister, der als prägend für diesen Stil gilt: Mestre Pastinha. Der Name Angola geht darauf zurück, dass man die Bewegungen, die die Sklaven auf den Plantagen bei ihren Treffen zeigten, als „Tanz aus Angola“ bezeichnete.
Capoeira Contemporânea
Viele der heute großen Schulen sind der Capoeira Contemporânea (z. Dt.: zeitgenössische Capoeira) zuzuordnen, die – wie bereits erwähnt – Elemente beider großen Stile vereinen können. Zu den bekanntesten Gruppen zählen Senzala und Abadá Capoeira. Letztere gilt als die weltweit größte Vereinigung und wurde vom Bimba-Schüler Mestre Camisa gegründet. Er ist heute als einer der wichtigsten Meister der Gegenwart, weil er die Kampfkunst permanent weiterentwickelt. Gleichzeitig ist Camisa auch sehr darum bemüht, traditionelle afrobrasilianische Tänze wie z. B. Jongo zu bewahren.
Kennzeichnend für die Capoeira Contemporânea ist die Integration der verschiedenen Stile und Rhythmen sowie moderner Kampfkunstelemente. Häufig ist das in den jeweiligen Gruppen dominierende Spiel athletischer, schneller und technischer.
Das Graduierungssystem beim Capoeira
Ähnlich wie in anderen asiatischen Kampfkünsten gibt es in den meisten Capoeiras-Schulen ebenfalls ein Graduierungssystem. So erhält man als Anfänger beim Eintreten in die Gruppe eine rohe Kordel (auch „corda crua“ genannt). Bei der ersten Kordelverleihung, wird man als Schüler sozusagen „getauft“ und bekommt einen „Apelido“, also einen Capoeira-Spitznamen oder Kriegernamen. Auch erhält man bei dieser „Batizado“ (Taufe) meist ein erste farbige Kordel. Das Besondere hierbei: Es gibt keine typischen Prüfungen. Bei Capoeira entscheidet der Lehrer über die Graduierung des Schülers. Dabei berücksichtigt man nicht nur die Technik. Man legt auch viel Wert auf die musikalischen Fähigkeiten, Kontinuität des Trainings und das Engagement für seine Capoeira-Gruppe.3
Für wen ist es geeignet?
Capoeira ist für jeden geeignet, der Interesse am Erlernen der Sportart hat. Wer fürchtet, nicht ausreichend beweglich zu sein oder keinen Salto kann oder erlernen möchte, der kann beruhigt sein: Capoeira besteht nicht nur aus spektakulären Akrobatiken, sondern auch aus Grundtechniken, die jeder innerhalb seiner Fähigkeiten erlernen kann.
Bei der Wahl der Gruppe ist es allerdings wichtig, auf die Erfahrung der Lehrer und mitunter auch deren Lehrer zu achten und vorher natürlich auf etwaige körperliche Einschränkungen hinweisen.
Die Wirkung von Capoeira auf die Gesundheit
Entlastend für den Rücken
Da man bei fast allen Übungen auf eine aufrechte Haltung achten muss, werden die Rumpfmuskulatur gestärkt und der Rücken entlastet.
Stärkung der Muskulatur
Bei der Kampfkunst wird die gesamte Muskulatur angesprochen. Dies gilt für die Bauchmuskulatur, Oberarme und Po. Der Großteil der Bewegungen erinnert an Bodyweight-Übungen, es wird viel mit dem eigenen Körpergewicht trainiert.
Herz-Kreislauf-System und Fettabbau
Abhängig von der Musik können die Bewegungen schneller oder langsamer ausgeführt werden. Weil man sich in ständiger Bewegung befindet, ist Capoeira eine vielversprechende Möglichkeit, um Kalorien zu verbrennen – besonders dann, wenn das Spiel mit dem Gegner intensiv und anstrengend ist. Ein weiterer Vorteil ist, dass das Training individuell an die körperliche Belastbarkeit des Menschen angepasst werden kann.4
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Die Studienlage zu den Effekten der Kampfkunst
Verbesserung des Herz-Kreislauf-Systems
In einem zehnwöchigen Capoeira-Trainingsprogramm wurden die Auswirkungen auf die Herz-Kreislauf-Parameter bei Männern untersucht. Dabei wurden die Teilnehmer in zwei Gruppen aufgeteilt: Die Capoeira-Gruppe absolvierte ein progressives zehnwöchiges Training mit einer Sitzung pro Woche (je 90 Minuten), während die Kontrollgruppe angewiesen wurde, körperliche Betätigung zu vermeiden. Die Studie lieferte Hinweise dafür, dass Capoeira-Training zu einer besseren Herzgesundheit führen kann.5
Verbesserung der Augen-Hand-Koordination
Die Studie untersuchte 67 Kinder im Alter von acht bis 13 Jahren bezüglich der Auswirkungen von Capoeira auf ihre motorischen Funktionen. Sie wurden in zwei Gruppen eingeteilt: eine Kontrollgruppe und eine Capoeira-Gruppe, in welcher die Kinder dreimal pro Woche an einem 60-minütigen Capoeira-Kurs teilnahmen. Die Ergebnisse der Studie ergaben, dass mindestens 70 Prozent der Kinder, die die Capoeira-Kurse besuchten, eine stärkere Verbesserung der Augen-Hand-Koordination vorzuweisen hatten als die Kontrollgruppe.6
Erhaltung der Lebensqualität
Die Studie untersuchte Capoeira-Spieler, die einen Wohnsitz in Brasilien und im Ausland hatten, auf die Frage, inwieweit Capoeira bei der Herstellung der Gesundheit und Erhaltung der Lebensqualität beitragen könne. Sie wies nach, dass Capoeira in der Lage ist, die Lebensqualitätswerte zu verbessern.7